Tagebuch von Victor Dondoya Aureumresistis Stellamane D'Pelisario von Al'Anfa
Interludium ( 1029)

Wir hatten es geschafft, wenn auch auf andere Art und Weise als ich es mir erhofft hatte. Die wenigen Feinde die noch verblieben waren befanden sich auf der Flucht, aber ich war mir sicher das alle, vielleicht außer Samar al Regilor auf ihrem Dämonenross, die Elfenwälder nicht lebend verlassen würden. Zumindest wenn die Geschichten über das alte Volk stimmten, die man sich erzählte. Aus dem Zirkel der die Globule verschlossen hatte lebten alle, bis auf die Elfe Moorlied, noch, was ich als Erfolg werten würde. Das hätte vermutlich, so wie in unserem Traum, auch völlig anders ausgehen können. Dafür hatte ich jetzt eine recht genaue Vorstellung, was die Elfen meinten, sie würden bei ihrem Tot „ins Licht gehen“, denn es war tatsächlich so, dass sich Moorlied vor meinen Augen im Zentrum der Kraft die sie gebündelt hatte, Stück um Stück vergangen war, bis sie sich selbst im wahrsten Sinne der Worte in Licht aufgelöst hatte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Aber sie schien dabei nicht gelitten zu haben, also ist vielleicht dieser elfische Weg zu sterben nicht einmal der schlechteste.

Auch erst im Nachhinein wurde mir die Gefahr voll bewusst, in die ich mich hier fortwährend begeben hatte. Das Risiko so nah an der Globule mittels des Transversalis durch den Limbus zu springen war mir ja noch bewusst. Aber was hätte auf dem Nodix hier noch alles geschehen können. Nun war der Transversalis im Vergleich zu den sonstigen dort während der Rituale freigesetzten Kräfte vergleichsweise irrelevant, wenn auch nicht völlig risikofrei. Aber wie ich meine Kraft in das Ritual integriert hatte hätte durchaus zu einer spontanen Überschreitung der kritischen Essenz führen können! Ich habe ja schon von Magiern gehört, bei denen dies zu akuter Entleibung, vorübergehendem Aufheben der Grenzen Deres oder dauerhaftem Wahnsinn geführt hatte. Oder kannte Moorlied tatsächlich auch hier ein uraltes Geheimnis, um den Kraftfluss in der Balance zu halten mit der Umgebung? Ich werde es wohl nie erfahren…

Der Rückweg nach Donnerbach durch die Elfenwälder war eine einzige Verwirrung aus verschiedensten Grüntönen. Wir waren alle geistig und körperlich ausgelaugt und die mitzunehmenden Blutopfer erleichterten uns den Weg auch nicht gerade. Das Einzige was ich halbwegs sicher sagen konnte, da wir ja als Fixpunkt mit dem 12. Travia den Tag des Rituals kannten, war das wir noch einmal etliche Tage in den Bergen und Wäldern verbrachten und erst am 20. Travia Donnerbach erreichten. Bis wir dort ankamen war schon recht sicher, dass unser gemeinsamer Weg hier zunächst sein Ende finden würde. Sari und Faramud wollten unbedingt weiter in den Norden. Sari um mit ihrer Sippe wieder vereint zu sein und von den Schamanen ihres Volkes unterrichtet zu werden. Und Faramud erzählte irgendetwas davon den nördlich der Salamandersteine lebenden „Uralten“, damit meinte er Riesen, seine Aufwartung machen zu wollen, wenn er schon einmal ohne weitere Aufgaben hier oben war. Pamina, das konnte ich nachvollziehen, hatte ein dringendes Anliegen ihre Familie im Horasreich zu besuchen, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Und da es Surina ebenfalls zurück in ihre Heimat zog würden die beiden wohl zusammen reisen. So blieb ich also alleine zurück um ebenfalls den Heimweg anzutreten, denn ein Umweg über das Horasreich würde mich Wochen, wenn nicht gar Monate kosten auf dem Weg nach Al’Anfa.

Allerdings schien sich unser Erlebnis zumindest unter den Elfen schneller verbreitet zu haben, als wir laufen konnten, denn in Donnerbach wurden wir bereits erwartet. Wir waren am Abend, noch erschöpft von der Wanderschaft, gerad erst eingekehrt, als eine Elfe wie ich sie noch nie gesehen hatte – ich hatte ja allgemein noch nicht viele Elfen kennengelernt – an uns herantrat, ein großes, schmales Päckchen unter dem Arm. Die Elfe hatte, ich kann es nicht anders nennen, eine für ihr Volk geradezu düstere Ausstrahlung. Ihr schwarzes Haar und die ebenfalls schwarzen Augen wären einem jedem Magus meiner Zunft hervorragend gestanden und ihr kühles Wesen machte sie nicht gerade zugänglicher. Dennoch bestand sie darauf, uns den Inhalt ihres Päckchens, ein Gemälde von ebenfalls finsterer Ausstrahlung, zu zeigen und von uns aus erster Hand zu erfahren, was wir erlebt hatten.

Eigentlich wollte ich nicht jedem dahergelaufenen Elf die Geschichte auf die Nase binden. Aber nachdem ich das Bild betrachtet hatte, konnten wir gar nicht anders. Die Elfe nannte sich Morvay sieht-schwarze-Federn-fallen aus der Krähenruf-Sippe und war eine Malerin, die ihre Visionen für die Welt in ihren Bildern festhielt. Auf dem Bild war eine elfische Gestalt auf einem Hügel gesplitterten Eises zu sehen. Der Himmel dahinter war dunkelviolett und bedrohlich, das nebelweise Haar flatterte in einem nicht zu sehenden Sturm. Die Gestalt erinnerte mich frappierend an Navahon Luchsweiser. Die Arme hatte der Elf beschwörend erhoben und aus den Fingern zuckten rote Blitze in den Himmel. Die Augen leuchteten regelrecht golden und zornig aus dem Bild und schienen den Betrachter gefangen nehmen zu wollen, während zu Füßen der Gestalt schwarzer Nebel wallte. Ich schauderte, als ich die Szene sah, die mehr als nur ein bisschen Ähnlichkeit mit dem gerade erlebten hatte. Also erzählten wir ihr, was vor kurzem in dem abgelegenen Tal geschehen war. Sie sagte nicht viel dazu, nickte nur immer wieder bestätigend und wissend, was mich noch mehr irritierte, bevor sie sich von uns mit einem freundlichen Dank verabschiedete. Seltsamerweise wirkte sie dabei erleichtert. Welche Last diese Elfe wohl für sich tragen mochte?

Wir gönnten uns noch ein paar Tage Ruhe in Donnerbach, bevor wir aufbrachen, jeder in eine andere Richtung gehend. Aber ich war mir, bei allen außer Sari, relativ sicher, dass wir uns früher oder später wiedersehen würden, immerhin wartete in Al’Anfa ja noch ein unermesslicher Schatz auf sie, den sie dann in meines Vaters Kontor würden abholen wollen. Nur Sari, die sich ja nichts aus Gold machte war ich mir da wirklich nicht sicher, ob sie den langen Weg für einen Haufen Metallscheiben auf sich nehmen wollte. Aber wir würden sehen… in einer seltenen Gefühlsaufwallung umarmte ich die treuen Gefährten noch einmal zum Abschied, selbst Faramud. Sie waren mir alle irgendwie ans Herz gewachsen in den letzten Monden und bei den gemeinsam überstandenen Gefahren. Insbesondere Sari und Pamina würde ich herzlich vermissen, aber auch Faramud als sicheren Schutz an meiner Seite und selbst Surina die uns ja noch nicht so lange begleitete hätte ich lieber noch mit mir genommen, statt sie jetzt ihrer Wege ziehen zu lassen. Aber das wollte Aves mir offensichtlich nicht vergönnen.

Die entstandene Zuneigung und das Vertrauen schienen jedoch auf Gegenseitigkeit zu beruhen, zumindest bei einigen. Das eindrücklichste Beispiel dafür lieferte mir Pamina, als sie sich von mir verabschiedete. Ich meinte sogar, ein paar Tränchen in ihren Augenwinkeln zu sehen, als sie mir versprach mich bald in Al’Anfa zu besuchen. Aber dann überraschte sie mich – in zweierlei Hinsicht. Denn zum einen schien sie mir nicht nur immer wieder gut zugehört und sogar anscheinend manches verstanden zu haben. Nein, sie schenkte mir auch einen immensen Beweis ihres Vertrauens in mich, indem sie ein Taschentuch und ihren Dolch zückte, sich sacht in den Arm schnitt, das austretende Blut auffing und mir dann das Tuch reichte. „Hier, das ist für Dich. Du hast gesagt, mit so etwas kannst Du mich immer finden oder mir Nachrichten zukommen lassen.“ Dann schienen ihr die Worte zu fehlen, aber mir ging es nicht anders. Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet, das war wahrlich einer der innigsten Beweise von echtem Vertrauen sowohl in meine Integrität als auch meine Fähigkeiten, die mir jemals jemand entgegengebracht hatte. Ich musste heftig schlucken, um meine Rührung zu verbergen. Bei Hesinde, dieses Vertrauen würde ich niemals mehr verspielen wollen! Und sollte sie mich jemals brauchen… nun, gerade war sie in den Kreis der Personen aufgerückt, die ich wie meine Familie bedingungslos beschützen würde. Ich nickte ihr stumm zu und umarmte sie noch einmal, einfach wortlos, weil ich nicht wollte, dass sie möglicherweise die Rührung in meiner Stimme hörte, wenn ich dazu etwas sagen würde.

Sari und Faramud verabschiedeten sich bereits in Trallop von uns, während Pamina und Surina mir zumindest noch bis Trallop erhalten blieben. Aber da ihr Weg nun nach Efferd aber meiner gen Rahja führte hieß dies nun endgültig Abschied nehmen. Ich gebe zu, ich fühlte mich in den ersten Tagen schon ein wenig allein gelassen, als ich so meiner Wege ohne jegliche bekannten Gesichter ging. Ich war natürlich selten allein, denn so viele Straßen gab es hier ja nicht. Meist fand sich in den Gasthäusern und Schänken am Morgen jemand, der in die gleiche Richtung ging und mit dem man sich für einen oder mehrere Tage zu einer spontanen Reisegruppe zusammenschließen konnte. Aber das war einfach nicht dasselbe…

Über Braunsfurt nach Salthel, über einen Bergpass der schwarzen Sichel hinüber ins Tobrische und dann von Kleinwardstein über Perainefurt bis nach Vallusa führte mich der Weg, dessen länge ich offenbar unterschätzt hatte. Ich hätte gedacht, ich könnte die Küste in vielleicht einer Woche oder 10 Tagen erreichen. Das hätte ich mit einem Pferd vermutlich – ich verfluchte Faramud an dieser Stelle noch einmal herzlich – auch geschafft. So aber benötigte ich für den Weg, zu Fuß oder manchmal auf einem Karren mitfahrend, über zwei Wochen. Wenigstens hatte ich dadurch abends, und später auf dem Schiff, genügend Zeit mich mit dem in Punin erworbenen Buch „Von der Entwicklung übernatürlicher Willenskraft“ zu beschäftigen. Dabei waren in der ganzen Zeit, das Reisewetter war im Allgemeinen gut und es bildete sich auch niemand ein mich überfallen zu wollen, nur zwei Dinge wirklich erwähnenswert.

Das erste geschah, als ich, noch zwischen Braunsfurt und Braunenklamm, alleine reisend die Mittagsrast im Schatten eines Baumes am Ufer des Braunwasser machte und mir gerade ein Stück Brot mit dem herzhaften weidener Käse, der ein recht starkes Aroma hatte, einverleibte. Niemand störte die Ruhe weit und breit, als sich ein mir bereits vertrautes Kribbeln im Nacken einstellte und der wohlbekannte leicht schwefelige Geruch verbunden mit einer Woge der niederhöllischen Kälte aufwallte. Neben meinem Lager manifestierte sich, wie aus dem Nichts, im dunkelsten Schatten der Baumkrone der niederhöllische Bote Karunga mit einem leisen, irren Kichern. Ich spannte mich innerlich, denn wirklich sicher ob ich diesmal gelobt würde oder bestraft, weil ich den letzten „Auftrag“ nicht erfüllt hatte, war ich mir bei den Niederhöllischen ja nicht. Aber ich schien mir keine Sorgen machen zu müssen, denn die flüsternde Stimme des Dämons war auch nicht bedrohlicher, als sie es bisher gewesen war, soweit man bei Dämonen von „freundlich“ sprechen konnte. „Du hast meiner Herrin Iribaar ordentlich gedient, auch wenn Du ihren Willen nicht erfüllt hast, Mensch. Aber Du hast ihr Geschenk zu einem Zweck verwendet, der ihren Zielen diente und du hast die Rückkehr des sechsten Tagherrschers vereitelt. Denn dies wäre auch meiner Herrin ein Gräuel gewesen… so Empfange nun also ihr Geschenk.“ Ich wartete neugierig, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet, und entspannte mich etwas, als mir der Dämon in grünem Schimmer die letzten Buchstaben enthüllte und noch einmal zu sprechen begann. „Der Feind, den du unter dem falschen Namen Samar al Regilor kennst, heißt in Wahrheit Perizel Al’Balam Saba Mordai. Diese früher als dümmliche Novadi und jetzt Dienerin des Namenlosen verblendete treibt ihr Spiel schon viel zu lange und ist meiner Herrin ein Dorn im Auge, deswegen sollst Du nun mehr erfahren. Sie ruft die Kinder des Abgrunds, deren wahre Namen sie kennt, nach ihrem Belieben und will die Macht des Namenlosen mehren, um ihn am Ende in eure Sphäre zurück zu rufen und seine Gunst zu erlangen. Diesmal plante sie, dies mit der Rückkehr des Tagherrschers zu erwirken, aber sicher sind ihre finsteren Pläne und Ränken noch nicht erschöpft. Sie ist dem Wahn verfallen, als ihr Mann sie für eine jüngere Verstieß und hat nicht nur ihre Familie ermordet und ihr Heim angezündet, sondern dem Rattenkind all ihre Haare geopfert. In Ihren Lehren verschmilzt sie auf perfide Art und Weise den Glauben der Novadis an einen einzelnen Gott mit den Ränken des Güldenen, um sich dort eine Machtbasis zu schaffen und die leichtgläubigen Kameltreiber für ihr Zwecke zu missbrauchen oder zu ihren Lehren zu bekehren. Dort solltest Du sie suchen… meine Herrin hätte nichts dagegen, wenn dieser Dienerin des Namenlosen ein Unfall geschieht. Und falls Du mehr erfahren möchtest… Du weißt ja, wer gegen eine kleine Gabe immer bereitwillig sein unermessliches Wissen mit den Menschen zu teilen bereit ist…“ Dann kicherte der Dämon noch einmal auf seine irre Art und verschwand, genauso schnell wie er gekommen war. Natürlich würde ich diesen Köder nicht schlucken, auch wenn es verlockend war. Aber ich wusste nun erst einmal genug, um mir meine eigenen Gedanken machen zu können, wie ich meine Rache noch bekommen würde. Und ob ich Perizel dann im Tot zu den Göttern oder vielleicht doch in die siebte Sphäre als Geschenk senden würde… das konnte ich mir ja immer noch überlegen. Iribaar würde mich sicher nicht unentlohnt lassen, wenn ich dies täte. Und von den Zwölfen, dass muss man zugeben, blieben solche guten Taten ja doch meist unvergolden. Also wollte ich da einfach einmal nichts von vornherein ausschließen…

Das zweite was ich nicht unerwähnt lassen möchte, auch wenn es eher eine Randnotiz ist, war ebenfalls eine kleine Versuchung, wenn auch ganz anderer Art. Bei Kleinwardstein hätte ich von meinem Weg abweichen können, denn dort führte eine Straße gen Praios nach Yol-Ghurmak, der letzten Wirkstätte von Meister Galotta. Es juckte mich den ganzen Abend und die Nacht in der Festungsherberge über, mir diesen sagenumwobenen Ort einmal mit eigenen Augen anzusehen. Angeblich ja die größte und mächtigste Dämonenschmiede des Kontinents, voll von niederhöllischen Wundern und unermesslichen Möglichkeiten für denjenigen der stark genug wäre das Schicksal beim Schopf zu packen. Aber als ich mich am Morgen endgültig entscheiden musste, siegte meine Sehnsucht nach der Heimat und der Familie. Und der Aussicht wieder mit Visaria vereint zu sein! Bei ihr würde ich ohnehin Abbitte leisten müssen, dass ich schon wieder so lange verschwunden war, wo ich doch nur eine kurze Fahrt unternehmen wollte. Aber ich hatte mir schon überlegt, wie ich es bei ihr wiedergutmachen wollte. Zumindest wenn ihre Familie mitspielen würde. Ich müsste ja später noch ins Horasreich reisen um meine Schulden bei Fabrizio zu begleichen und mein Patenkind Miguel zu besuchen. Und nur dort würde ich wohl auch einen ausreichend kompetenten Lehrer des Aureliani finden, sei es in Bethana, Vinsalt oder gar Kuslik. In jedem Fall würde mir da noch eine Reise bevorstehen, und im besten Fall würde ich Visaria auf diese mitnehmen und sie nicht nur zum Studium, sondern gleich als gemeinsame Urlaubsreise nutzen können. Ich war mir nur noch nicht ganz sicher, wie ich ihre Familie von diesem Ansinnen überzeugen sollte. Denn die Reise mit einem zusätzlichen Anstandswauwau der Ulfharts zu verbringen käme natürlich auch nicht unbedingt in Frage…

Also setzte ich meinen Weg weiter fort um am Ende der Straße endlich Vallusa zu erreichen um mir dort eine Schiffspassage zu suchen.

Vallusa betrat ich über die tobrische Brücke und musste eine, angesichts der nähe zu den schwarzen Landen nicht verwunderlich, recht strenge Befragung und Visitation über mich ergehen lassen. Das Zutrauen in Magier jeglicher Couleur, selbst mit der Reputation eines Abschlusses und der Gilde im Rücken, schien hier nachhaltig erschüttert zu sein – oder sie sagten sich einfach, Vorsicht sei die Mutter der berühmten vallusaner Porzellankiste. Quartier nahm ich dann bis zur Abfahrt vom Hafen 4 Tage später in der Brückstube. Einem ordentlichen Haus, in dem ich mich in Ruhe meinen eigenen Angelegenheiten widmen konnte. Es gingen von hier immer wieder einmal einzelne Schiffe nach Festum und Konvois durch die blutige See gen Süden. Es war tatsächlich überhaupt kein Problem auf dem nächsten Konvoi eine Passage zu bekommen, nachdem ich erbot mich als Schiffsmagus nützlich zu machen, solange ich dafür die Fahrt samt Verpflegung unentgeltlich bekommen würde. Die Schivonella „Stern von Terubis“, die unter liebfeldischer Flagge auf dem Rückweg von Festum war nahm mich gern an Bord und so konnte ich unter Efferds wohlwollenden Augen meine Reise fortsetzen.

Unsere Passage war von wechselhaftem, aber nicht allzu schlimmen Wetter geprägt. Bei der Durchfahrt der blutigen See hatten wir mit den üblichen Unannehmlichkeiten zu kämpfen. Ein xeraanischer Pirat meinte, einen Nachzügler der Flottille überfallen zu müssen, dem wir zu Hilfe kamen und die blutrünstigen Bastarde wieder vertrieben. Einen dichten Algenteppich, bei dem ich durch Betrachtung mit dem Oculus Astralis eine Ulchuchu-Verseuchung vermutete, mussten wir umfahren und verloren etwas Zeit. Und einen nächtlich aufziehenden stinkenden Nebel überstanden wir durch das verstärken der Positionsbeleuchtung und regelmäßige Signale, die wir uns gegenseitig mit den Schiffsglocken gaben. Ansonsten bestand meine Aufgabe eher darin, leichtere Blessuren der Matrosen zu kurieren, soweit das abergläubische Seemansvolk überhaupt einen Magier an sich heranließ. Aber im Großen und Ganzen waren die 10 Tage bis Khunchom eine der angenehmeren Seereisen, die ich bisher absolviert hatte.

Eigentlich hätte ich ja einen mehrtägigen Aufenthalt in Khunchom geplant. Aber da die „Stern von Terubis“ schon in zwei Tagen nach der Löschung der Fracht und Neubeladung und einem Landgang für die Besatzung schon weiterfuhr und mich sogar noch bis Al’Anfa mitnehmen würde, stellte ich diese Pläne hintenan. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, bei Yunasia an der Akademie vorbeizusehen. Ich wollte ihr unbedingt von den letzten Erlebnissen berichten, insbesondere von meinen Erlebnissen mit dem elementaren Meister im Kalifat und der hexaelementaren Verschmelzung bei dem Ritual zur Bannung des Tagherrschers. Sie schien tief beeindruckt von den Möglichkeiten, die die Zauberwirker der Nivesen zustande brachten und ich sie fragte mir eine Nacht lang ein Loch in den Bauch, auch wenn ich nicht alle ihrer Fragen zur Zufriedenheit aufklären konnte. Mir war ja selbst das meiste davon ein Rätsel geblieben – mit ihrem Wissen um den Elementarismus wäre der Erkenntnisgewinn auf der Reise sicherlich ungleich größer gewesen. Deswegen versprach ich ihr auch, sollte ich noch einmal mit Sari in ihrer Nähe vorbeikommen, würde ich die beiden sicherlich bekannt machen. Sie würden sich bestimmt prächtig verstehen!

Und schon ging es weiter in Richtung der Heimat, ehe ich mich versah. 14 Tage segelten wir nun entlang der Küstenlinie, sogar mit dem Studium meines Buches war ich fertig bevor wir ankamen so dass ich begann mich zu langweilen, bis wir endlich die vertrauten Umrisse der schönsten Stadt Deres sahen. Ich stand schon eine ganze Zeit erwartungsfroh an der Reling, seit wir das Kap in die Bucht von Al’Anfa passiert hatten. Mir konnte es nun gar nicht mehr schnell genug gehen und ich hatte mich vom Kapitän bereits verabschiedet, als wir endlich am Kai anlegten. Die Planke hatte kaum den Boden berührt, als ich schon von Deck stürmte und mich in das geschäftige Treiben des Hafenviertels stürzte. Bereits die letzten Tage hatte ich überlegt, was ich hier in welcher Reihenfolge erledigten wollte. Und egal wie ich es drehte und wandte, es war mir alles so wichtig, dass ich mich am liebsten zerteilt hätte.

Der erste Weg, einfach weil es der kürzeste war, führte mich zu Vaters Kontor um dort zu verkünden, dass ich wieder zuhause war und mich spätestens zum Abend in der Villa einfinden würde. Ich hatte Glück, dass Vater zu einem Geschäft im nahen Phextempel war, denn sonst wäre ich sicher nicht so schnell wieder fortgekommen. So konnte ich mir aber sicher sein, dass ein Diener die Nachricht schon überbringen würde und ich den Gang erledigen konnte, der mir fast noch wichtiger war, bevor ich meine Familie wiedersehen wollte.

Auf dem Weg durch die Stadt in Richtung des Silberbergs machte ich eine ganz kurze Station bei einem Barbier um mein Haar richten zu lassen, mich bei einem Bader zu reinigen und in meine gute dunkle Robe zu wechseln. Solcherart aufgehübscht traute ich mich nun auch, bei den Ulfharts vorstellig zu werden um Visaria nach der langen Zeit meine Rückkehr zu verkünden und sie, wenn sie es denn so spontan würde einrichten können, zur heute sicher wieder stattfindenden abendlich Erzählstunde in die Villa meiner Eltern einzuladen. Es war schon seltsam, wie ich, der ich ja ansonsten wenig befangen war und mich den größten Gefahren der Welt mit sicherem Stand stellte, dem Wiedersehen mit meiner süßen Visaria mit einem Kloß im Hals, einem Knoten im Magen und leicht unsicheren Knien entgegensah als ich die Tore des ulfhartschen Anwesens durchschritt in den Sklaven hieß, mich anzukündigen.

 

Wobei ich das Portal der Villa, geschweige denn die Mauer des Anwesens nicht einfach so überwand, man war ja schließlich auf dem Silberberg. Vier gut gerüstete Wachen mit dem Wappen der Ulfharts auf der Brust, einer silbernen Galeere auf Meerblau, musterten mich trotz meiner eindeutigen Erkennbarkeit als Magus von Stand misstrauisch, und ich musste mich dem Majordomus gegenüber vorstellen bevor ich eingelassen wurde. Glücklicherweise schien ihm mein Name bekannt zu sein, was mich verwunderte aber erfreute, so dass ich nicht noch einer näheren Überprüfung unterzogen wurde. Man bat mich in das Foyer, prächtig ausgestattet mit dem neuesten Pomp der für Geld zu erwerben war, und ließ mir als Erfrischung für die Wartezeit gekühlten Wein und Früchte reichen.

Ich bekenne, ich war ein wenig angespannt ob der freudigen Erwartung Visaria endlich wiederzusehen. Ob sie mich wohl schelten würde, weil ich wieder so lange fortgeblieben war? Ich jedenfalls würde das mit mir selbst tun. Eine Gute Erklärung hin oder her, das Weltenretten ist ja ganz schön, aber ein wenig fürchtete ich mich davor, mir ihren Zorn zugezogen zu haben. So wartete ich also wie ein nervöser Schuljunge auf der Bank und sprang eilends auf, als ich die Schritte mehrerer Personen näherkommen hörte. Der freudige Knoten, den ich gerade noch im Magen gespürt hatte, wanderte unversehens hinauf in meinen Hals, als die kleine Gruppe um die Ecke kam, meine Vorfreude schmolz wie Neuschnee in der Khom. Das war nicht Visaria, die da heranschritt. Ich machte eilig eine höfliche Verbeugung, bevor ich mich wieder sammelte.

Dort vor mir stand, begleitet von einer Entourage aus zwei Wachen, einer Leibdienerin einem Sekretarius und einer Kollega in aufregend eng geschnittener Robe, die Herrin des Hauses Ulfhart, Tsaiane höchstselbst. Eine strenge Schönheit, welche die 50 Götterläufe sicher schon überschritten hatte und, soweit ich das wusste, Visarias Tante oder Großtante war. Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals breit gemacht hatte hastig hinunter, straffte mich und gab mir größte Mühe, ein gewinnbringendes Lächeln zustande zu bringen. Damit, direkt von der Hausherrin empfangen zu werden hatte ich nun absolut nicht gerechnet, aber das sollte mich nicht davon abhalten, mein Anliegen vorzutragen.

Ich wollte mich gerade vorstellen, zu einer Erklärung ansetzen und darum bitten, zu Visaria vorgelassen zu werden, da Schnitt mit die Dame Ulfhart schon mit einer autoritären Handbewegung das Wort ab. Obwohl sie dabei ebenfalls lächelte hatte ich das Gefühl, wie eine Sardine vor dem Maul eines lauernden Haifischs zu schwimmen. Sie erklärte mir ohne große Umschweife, anscheinend war sie bestens im Bilde was mich anging, das Visaria derzeit zu einer kleinen Kaffeegesellschaft mit anderen Damen aus gutem Hause in der Stadt weile und nicht vor dem Abendmahl zurückerwartet würde. Bei Phex, war es denn zu viel verlangt, sie direkt wieder sehen zu dürfen nach der langen Zeit? Andererseits… es wäre wohl tatsächlich ein Zufall gewesen sie heute hier müßig anzutreffen. Sie würde ja kaum tagein tagaus zuhause sitzen und auf meine unsichere Rückkehr warten, nicht wahr? So betrachtet, kam mir mein Verhalten schon fast töricht vor. Aber dann änderte sich der Tonfall der Dame Ulfhart, unmerklich zwar, aber für den aufmerksamen Zuhörer grade noch erkennbar. „Uns ist zu Ohren gekommen, ihr hättet nicht unwesentliche Anteile an einem kürzlich der Phexkirche erwiesenen Dienst gehabt und seid dabei zu einem gewissen Wohlstand gelangt“. Ich war mir nicht sicher, ob das eine Feststellung oder Frage war und wollte gerade Antworten, da fuhr sie auch schon fort. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mich die Kollega in ihrer Begleitung eindringliche und konzentriert musterte und die Lippen bewegte. Reiß dich zusammen, Victor, und denk jetzt an nichts Falsches! „Nun ist ein solches natürlich noch keine Eintrittskarte in unser Anwesen, aber ihr habt zumindest meine Neugier geweckt, wenn der Vogtvikar der Kirche wohlwollend von Euch spricht, junger Mann.“ Dabei lächelte sie wieder dieses Haifischlächeln und ich hatte das Gefühl, eine bereits ausgelegte Schlinge zöge sich um meine Füße zu. „Ich gestatte Euch, Euren Wunsch vorzutragen.“ Und dabei sah ich in ihren Augen, dass sie bereits genau wusste, was ich wollte. Kurz war ich versucht, nur aus Prinzip und um sie zu überraschen, etwas völlig anderes vorzutragen, als das weswegen ich gekommen war. Aber andererseits… im besten Fall würde ich ein Spiel mit ihr beginnen, dass ich unmöglich gewinnen konnte und um schlimmsten Fall mochte ich damit das bisschen Wohlwollen verspielen, das ich derzeit anscheinend zu genießen schien und mir und Visaria alles unnötig verkomplizieren. Ich räusperte mich noch einmal, bevor ich in, so hoffte ich zumindest, halbwegs selbstsichern Ton meine Bitte vorbrachte, die ich auf die Schnelle improvisierte. „Hochverehrteste Dame Ulfhart, wie ihr sicher wisst, ist es im Hause meiner Familie mittlerweile gute Tradition, das ich am Abend nach meiner Rückkehr die Geschichte meiner Reise Vortrage um allen einen unterhaltsamen und spannenden Abend zu bieten. Das mindeste, mit dem ich meine gelegentlichen Abwesenheiten wett machen kann. Ich wäre Euch überaus verbunden, wenn ihr es der verehrten Dame Visaria ausrichten lassen und ermöglichen würdet, dass ich über ihre Anwesenheit dabei überaus entzückt wäre.“ Vor lauter hochgestochenem geschwülzte bekam ich fast einen Knoten in die Zunge. Wäre meine Hautfarbe heller, hätte man mich wohl erröten sehen, aber ich war mir fast sicher, dass die Kollega an der Seite der Herrin Ulfhart sich dessen nur zu bewusst war, auch wenn ich die Bilder in meinem Geist bewusst neutral gehalten hatte.

Sie schien einen Augenblick zu überlegen – fast hatte ich den Eindruck, nur der Form halber – bis sie mit der Zunge ein schnalzendes Geräusch machte und dann nickte. „Ich will einmal nicht so sein. Ihr jungen Leute seid einfach so berechenbar…“ sie machte eine huldvolle Geste. „Ich werde einen der Diener zu ihrer Kaffeegesellschaft schicken und sie über die Bitte in Kenntnis setzen.“ Bei diesen Worten machte mein Herz einen kleinen Luftsprung und ich riss mich zusammen, damit dieser sich nicht auf meine Beine zu einem unziemlichen Hopser übertrug. Ich wollte mich gerade bedanken und abwenden, um der Dame Ulfhart nicht noch mehr ihrer Zeit zu stehlen, da unterbrach sie mich schon wieder mit einem leichten Winken. Und was sie dann sagte, ließ mir das Herz regelrecht in die Robe rutschen. „Ich gehe davon aus, dass sich Eure Einladung anstandshalber auch auf mich selbst erstreckt. Ihr dürft Euren Eltern ausrichten, dass ich mich sehr über die Einladung zum abendlichen Dine und den Ausblick auf eine spannende Geschichte im Anschluss danach freue. Ihr dürft Euch nun Absentieren, junger Mann, wir sehen uns später.“

Es war, als würde mir Eiswasser durch die Adern strömen, als ich mich umdrehte und ging. Hier hatte ich es ganz eindeutig mit einer Frau zu tun, die die Zügel in der Hand hatte – und ich war gerade das Pferd, das sie mit strenger Hand geritten hatte. Mit einem gewissen Gefühl der Hilflosigkeit, sie hatte mir eindeutig das Szepter des Handelns aus der Hand genommen, verließ ich die Villa Ulfhart um mich eilends zu meinem Elternhaus zu begeben. Wie viele Stunden noch bis zum Abendmahl? Gefühlt viel zu wenige! Mutter würde ob dieser Ankündigung rotieren! Wie Vater reagieren mochte, war ich mir allerdings nicht sicher.

Solcherart vor die Tür komplementiert machte ich mich hurtig auf hinab vom Silberberg zur Villa meiner Eltern. Der Weg war zwar nicht besonders lang, aber ich brauchte ihn tatsächlich, um wieder halbwegs zu klaren Gedanken zu kommen. Ich kam nicht umhin den Eindruck zu haben, dass in meiner Abwesenheit etwas geschehen war, von dem andere wussten, was mir aber noch entgangen war. Dere hatte sich hier eindeutig ohne mich weitergedreht und ich hing den Entwicklungen unerfreulicherweise hinterher. Das Gefühl ein Spielball von Dingen zu sein, auf die ich nicht direkt Einfluss nehmen konnte mochte ich ja überhaupt nicht. Das würde ich möglichst zügig ändern müssen. Aber jetzt galt es erst einmal den kommenden Abend zu überstehen, ohne sich dabei zu blamieren.

Als ich das Anwesen erreichte hatte ich mich wieder halbwegs im Griff und war auch nicht verwundert, dass man meine Heimkehr von Vaters Kontor aus auch hier bereits verkündet hatte. An den sich eifrig verbeugenden Dienern uns Sklaven vorbei eilte ich auf mein Zimmer um mir noch einmal schnell etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen und mich zu erfrischen. Ich hatte mich zwar erst vor dem Besuch bei Ulfharts frisch gemacht, aber zu sagen das mich das Auftreten Tsaiane Ulfharts ins schwitzen gebracht hatte, abgesehen von den Temperaturen auf dem Heimweg, war nicht untertrieben. Ich war nun hin und her gerissen, zuerst nach Nandurin zu sehen und meinen kleinen Liebling endlich wieder in die Arme zu nehmen, oder doch umgehend bei Mutter Rapport zu erstatten. Ich entschied mich für letzteres. Nandurin dürfte es kaum auffallen, ob er mich nun sogleich oder erst ein Stundenglas später sehen würde. Er würde mich deswegen auch kaum schimpfen. Mutter hingegen konnte solcherlei Dinge durchaus differenzieren und wäre höchstwahrscheinlich ungehalten über jede Minute Vorbereitungszeit, die ich ihr mit schuldhaftem Verzögern rauben würde. Heimzukehren und mir gleich Ungemach einzuhandeln wäre nicht die beste aller Ideen.

Also suchte ich Mutter auf, die gerade im Salon dabei war eine Sklavin zurechtzuweisen, die dem polieren des Sets bergkristallener Kelche ihrer Meinung nach nicht mit der gebotenen Sorgfalt nachgekommen war – und ich möchte anmerken, dass die Kelche in meinen Augen durchaus schon wie klares Eis funkelten. Aber ich schweife ab… Nachdem ich Mutter mit dem gebotenen Respekt und meiner ehrlichen für sie empfundenen Liebe eines Sohnes begrüßt hatte, hielt ich mich daher auch gar nicht lange mit irgendwelchem Geplauder auf, sondern setzte sie kurz und knapp darüber in Kenntnis, dass wir heute einen weiteren hochgestellten Gast zum Abendessen würden erwarten dürfen. Halb hatte ich erwartet, dass sie einen spitzen Schrei ausstoßen und mit wirbelndem Rock sofort Richtung Küche eilen würde, so wie es früher immer wieder einmal geschehen war – und schon wieder wurde ich überrascht, bereits das zweite Mal am heutigen Tage.

Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, als sie mich prüfend musterte. „Folge mir“, sie nickte mir knapp zu. Ich ging ihr, überrumpelt von der ungewohnten Reaktion, folgsam hinterher. Sie eilte – gemessenen Schrittes möchte ich betonen – davon und betrat ohne zu zögern das Heiligtum des Hauses, also Vaters Arbeitszimmer, wo sie sich sicher, als wäre es das normalste der Welt, auf dem Schreibtischstuhl niederließ. Ein seltsam anmutender Anblick, meine zierliche Frau Mutter hinter dem wuchtigen Schreibtisch in dem ebenfalls wuchtigen, thronartigen Lederstuhl meines Vaters sitzen zu sehen. Mit sicherem Griff öffnete sie eine der Schubladen des Schreibtischs, nahm wie selbstverständlich Pergament, Feder und ein Tintenfass heraus und begann zu schreiben. Als sie fertig war lass sie mir kurz vor, bevor sie das Pergament zusammenrollte und mir überreichte:

"Die Praefecta Thesauri wird sich heute zum Dinnieren einstellen. Es scheint sich schneller als erwartet herumgesprochen zu haben, dass nicht nur Viktors „Reisegefährten“, sondern auch die junge Zeforika einen erklecklichen Anteil des Familienschatzes in Deine Obhut zur Verwaltung gegeben hat. Der Rat richtet sein Auge auf uns. Ich werde wie gewohnt vorbereiten und Viktor instruieren, dass er bei seinen Erzählungen keine zu großen Nägel in die Schiffsplanke treibt. Sei mit angemessenem Zeitvorlauf hier um Dich vorzubereiten“ 

Ich wollte Mutter schon fragen, was das zu bedeuten hatte, aber wieder kam ich nicht zu Wort – warum hatten heute alle Frauen anscheinend den Drang, mich herumzukommandieren? „Eile zu deinem Vater, überbringe es ihm persönlich und sorge dafür, dass er es liest und nicht auf die Seite legt.“ Das Mutter mich und nicht irgendeinen Diener damit beauftragte, ließ mich die Tragweite und ihre Erwartungshaltung an das heutige Ereignis erahnen, auch wenn ich mir immer noch keinen Reim darauf machen konnte. Aber zumindest konnte ich aus den geschriebenen Worten etwas mehr erahnen, was in meiner Abwesenheit geschehen war. Daher nickte ich nur gehorsam und erwiderte ihren Auftrag mit einem „Wie Du wünschst, Mutter, ich mache mich gleich auf den Weg.“ Bisher hatte ich ja angenommen, dass die Rolle meiner Mutter sich auf unser Heim und den Haushalt beschränkte. Mochte etwa an dem Spruch „hinter jedem starken Mann…“ auch bei uns etwas dran sein?

Was ich mir nun erlaubte, war zweierlei Dingen geschuldet. Zum einen wollte ich keine weitere Zeit verlieren, denn offenbar würde auch mir nicht viel Raum bleiben mich auf den kommenden Abend vorzubereiten. Und ich wollte endlich wieder das Gefühl haben, Herr meiner eigenen Handlungen zu sein. Mutter erwartete also, dass ich nun im Schweinsgalopp Richtung Hafen rennen würde? Ha! Nichts verschaffte einem mehr an eigener Initiative, als wenn man das Gegenüber überraschte – so wie mir es ja heute schon zweimal geschehen war. Als ich mich nicht umgehend in Richtung Tür in Bewegung setzte sah ich noch, wie Mutter die Stirn runzelte und dann selbst überrascht in das plötzlich leere Zimmer starrte, als ich meine Arme vor der Brust kreuzte und mit einem sacht gesprochenen „Transversalis“ von einem auf den anderen Augenblick verschwunden war.

Ja, es fühlte sich gut an, wieder das Heft des Handelns in der Hand zu halten, auch wenn mich bei der Durchquerung des Limbus ein kleiner körperlicher Schmerz durchzuckte – ich hätte mir vielleicht die Sekunden für einen vorbereitenden Gardianum nehmen sollen, aber manchmal war ich doch etwas impulsiv. Zum Glück war ich heute schon einmal im Kontor gewesen und hatte gesehen, dass die Galerie vor Vaters Büro frei war. Es wäre nichts ärgerlicher gewesen, als in einem Haufen gestapelter Waren zu apparieren und wieder zurückgeworfen zu werden – abgesehen von den damit verbundenen Schmerzen wäre es vor Mutter überaus peinlich gewesen. So aber stand ich nach einem Wimpernschlag im Kontor auf der Galerie, von der aus Vater gern einmal die Arbeiten seiner fleißigen Sklaven beaufsichtigte. Hinter mir hörte ich ein erschrockenes Keuchen, das stumpfe poltern eines schweren Gegenstandes und ein schmerzhaftes stöhnen. Als ich über die Schultern blickte sah ich einen der besagten Sklaven, dem mein unvermitteltes Auftauchen wohl einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Ich zuckte die Schultern, keine Zeit für solche Kleinigkeiten und ging zu Vaters Schreibstube.

Mutters Anweisung ließ ja nicht eben viel Interpretationsspielraum – manchmal war man einfach besser bedient, wenn man Aufträge Buchstabengetreu ausführte. Und genau das tat ich jetzt auch. Vater war auch nur ganz kurz ungehalten, als ich ihn beim Durchgehen einer Frachtliste störte und Mutters Nachricht übergab. Er wollte sie sogar, wie Mutter es geahnt hatte, auf den Papierstapel neben sich legen um sich dem Pergament später zu widmen, bis ich darauf insistierte, die Herrin des Hauses habe betont, er möge es bitte sofort zur Kenntnis nehmen. Mit einem tiefen Seufzen, das andeutete „was will sie denn nun wieder so Dringliches – benötigen wir schon wieder eine neue Sänfte?“ entrollte er das Schreiben. Zweimal huschten seine Augen über die Zeilen, dann runzelte er die Stirn und sah mich mit dem „Was hast Du jetzt schon wieder angestellt, Sohn?“ Blick an. Dann nickte er, mehr zu sich selbst als zu mir, bevor er mir in Augen sah. „Ich habe verstanden, sag meiner lieben Frau, ich werde die Arbeit heute früher beenden und bald nach Hause kommen.“ Als ich zögerte blickte er noch einmal von seiner Liste auf und zu mir hinüber. „Falls du dich fragen solltest, was du verpasst hast, eine Menge. Du warst ja auch wieder eine halbe Ewigkeit fort. Du hättest ruhig einmal eine Nachricht schicken können. Deine Mutter und Schwester haben sich sehr um dich gesorgt. Wie dem auch sei. Deine Freundin Melissa Zeforika war noch einmal in der Stadt und hat mithilfe der Kirche des Grauen und der Unterstützung meiner Wenigkeit eine Dschungelexpedition aufgestellt. Ich habe den Aufwand und das Ausmaß, das sie gefordert hatte ja für übertrieben gehalten. Aber bei Phex! Mit den Schätzen die sie auf das Schiff verladen hat und die nun sicher verwahrt hier liegen hätte man eher Waldelefanten statt eine riesige Kolonne Maultiere mehrmals beladen sollen! Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen… ich habe Deine letzte Erzählung ja für maßlos übertrieben gehalten. Aber bei Phex… Nun ja, auf jeden Fall bleibt eine solche Fracht den gut informierten Kreisen dieser Stadt natürlich nicht verborgen. Wir haben den Zöllnern und dem Hafenmeister zwar eine ordentliche Summe gezahlt, damit sie den Mund halten, aber du weißt wie das ist. Die Geschichte über den unerwarteten Geldsegen pfeifen, wenn auch nicht immer richtig, in den Kreisen der Granden und Händler mittlerweile die Spatzen von den Dächern. Also gib auf dich acht und versuche, nicht zu viele Dummheiten mit dem Reichtum zu machen. Bis wir das weitere in den nächsten Tagen geklärt haben werden ich das Gold sicher verwahren, so wie die letzten Monde auch.“ Meine Knie waren ein wenig wackelig geworden ob dieser Enthüllung. Das erklärte natürlich, warum die Dame Ulfhart mich so angesehen hatte – ich war keine Sardine vor ihrem Haimaul gewesen, ich war ein Goldfisch.

Für den Rückweg nahm ich mir diesmal die Zeit eines Gardianum vorweg, bevor ich mich in mein Zimmer transversalisierte. Diesmal war niemand da, der sich darüber erschrak, was mir endlich die Gelegenheit gab kurz innezuhalten und zu überlegen, was das nun für mich bedeuten mochte. Aber natürlich fehlten mir noch entscheidende Details, zum Beispiel wusste ich noch gar nicht, wie groß mein persönliches Vermögen jetzt genau war. Die nächsten Tage würden sicher noch spannend werden was das anging. Nun ließ ich mich allerdings nicht mehr aufhalten, ich wollte endlich Nandurin wieder sehen! Vermutlich würde ich ihn mit Ulmjescha im Garten finden. Sogleich machte ich mich auf den Weg durchs Haus. Kurz bevor ich den Laubengang erreichte, der in den Garten führte, hörte ich verstohlene Stimmen hinter der nächsten Ecke. Weiblich, eindeutig. Ich meinte, die Stimme zu kennen und schnell kam es mir. Das war Nandurins alte Amme. Und die andere musste einem der Waschweiber gehören. „Ich sag’s Dir, Nanne, das wird nicht gut gehen. Der junge Herr hat uns mit den beiden das schlimmste ins Haus geholt, was es gibt. Das Gör“, damit schien sie Ulmjescha zu meinen, “hat Phex persönlich im Leib. Vor der ist nichts sicher. Und der kleinen Dämonenbrut ist das Böse ja schon in die Wiege gelegt. Die beiden sind zusammen schlimmer als jede Naturkatastrophe“. Was musste ich da hören? Betont fröhlich pfeifend umrundete ich die Ecke, und das Geläster verstummte schlagartig. Die beiden Weiber, die da die Köpfe zusammen gesteckt hatten warfen mir einen furchtsamen Blick zu als ich, sie völlig ignorierend aber innerlich grinsend, an ihnen vorbei Schritt. Meinen Sohn als Dämonenbrut zu bezeichnen… der alte Kratzbesen würde sich noch wundern, wenn ich einmal Zeit finden sollte mich um sie zu kümmern!

Als ich im Garten ankam bot sich mir ein wunderbarer Anblick. Im hellen Licht der Nachmittagssonne planschte Nandurin mit Ulmjescha im Becken des Atriums und die beiden spritzten jauchzend das Wasser in alle Richtungen. Meine Güte, war Nandurin im letzten halben Jahr wieder gewachsen – schlimmer als Bambus, dem man ja auch beim in die Höhe schießen regelrecht zusehen konnte. Mittlerweile tapste er nicht mehr, sondern rannte schon mit sicheren Schritten zielgerichtet durch die Gegend. Und auch Ulmjescha, kam ich nicht umhin unter ihrem nassen Hemdchen zu erkennen, hatte wohl einen kleinen Entwicklungsschub hingelegt. Zeigten sich da etwa die ersten Erhebungen kleiner Brüstchen und hatte ihr Hintern etwa begonnen ein wenig Form anzunehmen? Aus dem halbverhungerten dürren Kind das ich aus Festum mitgenommen hatte schien bei ausreichender Ernährung erstaunlich schnell eine junge Frau zu werden. Meine versonnene Betrachtung der beiden war jedoch nur kurz, denn die beiden brauchten nicht länger als wenige Sandkörner die durch eine Uhr rannen, bis sie mich erblickten. Kreischend rannte Nandurin auf mich zu „Dada!“ Als ich die patschnasse kleine Gestalt in die Luft schleuderte und in die Arme schloss wurde ich von einem Sprühregen an Wassertropfen eingehüllt. Ich drückte und knuddelte meinen kleinen Fratz, der nur noch lachend und prustend auf mich einplapperte um mir zu erzählen, was er zuletzt Wichtiges erlebt hatte. Ich verstand zwar kaum ein Wort, aber das war ja auch egal, so sehr freute ich mich über unser wiedersehen. Auch Ulmjescha war mittlerweile aus dem Becken gestiegen und kam mit einem schüchternen Lächeln zu uns herüber. Mit Nandurin auf dem Arm wand ich mich zu ihr um. „Danke, dass Du so gut auf meinen kleinen Augapfel aufgepasst hast, während ich weg war.“ Dabei legte sich ein strahlen über ihr Gesicht, das der Sonne am Himmel Konkurrenz machte. Anscheinend wurde sie nicht allzu oft gelobt. Dann streckte ich meinen anderen Arm aus und ging in die Hocke. Sie verstand das Angebot, und ein weiterer nasser Körper drückte sich an mich, als sie die Arme um meinen Hals legte. So standen wir zu Dritt einige wunderbare Augenblicke da, bis mich ein unmissverständliches Hüsteln hinter uns aufhorchen ließ.

„Ich störe ja nur ungern Eure kleine Zusammenkunft,“ machte sich Mutter bemerkbar, „aber wir haben in kürzester Zeit noch einiges vorzubereiten und zu bereden. Für alles andere ist morgen Zeit…“ Wir drehten uns zu Dritt in Mutters Richtung um, die trotz der kühlen Worte ein freundliches Lächeln im Gesicht hatte, das auch ihre Augen erreichte. „Ulmjescha, Kleines, du gehst mit Nandurin jetzt hinein, ihr macht Euch für das Abendessen fertig und zieht Eure besten Gewänder an. Wir bekommen hohen Besuch. Und Du, Victor, kommst mit mir. Es gibt etwas, das wir geklärt haben sollten, bevor unsere Gäste kommen.“

Pflichtschuldig kamen wir Mutters Aufforderung nach. Ich folgte ihr ins Dormitorium, wo sie uns zwei Gläser geeisten Traubensaft bringen ließ, bevor sie fortfuhr. „Nur in aller Kürze, denn mir fehlt dank dir jetzt die Zeit mich lange aufzuhalten. Wenn du heute Abend Deine Geschichte vor der Präfekta erzählst, sei so gut und übertreibe nicht zu sehr“ – als wenn ich das jemals hätte, meine Geschichten mochten zwar fantastisch anmuten, entsprachen aber doch der Wahrheit! – „und halte Dich mit allzu schaurigen oder blutrünstigen Schilderungen zurück.“ Ich fragte mich jetzt schon angesichts des erlebten, wie ich das anstellen sollte und muss dabei etwas ratlos gewirkt haben. „Ich meine es ernst Victor, verdirb es heute nicht“, mahnte sie mich noch einmal eindringlich. „Dafür scheinen die Götter uns hold zu sein, was Nandurin betrifft. Er hat die letzten namenlosen Tage im Borontempel, wie haben ihn da zur Sicherheit trotzdem untergebracht, gut überstanden, ohne irgendwelche Anfälle. Dieses Problem scheint tatsächlich gelöst zu sein, und auch seine Wutausbrüche sind weniger geworden. Ulmjescha scheint einen guten Einfluss auf ihn zu haben, die beiden verstehen sich blendend. Ich habe die alte Amme in deiner Abwesenheit von ihrer Aufgabe entbunden und wieder zu den Küchenweibern geschickt.“ Das freute mich jetzt zu hören, ich lächelte erleichtert. „Aber was fällt Dir eigentlich ein, so lange fortzubleiben ohne uns wenigstens eine Nachricht zu schicken? Du hast gesagt es würden nur wenige Wochen! Jetzt ist ein halber Götterlauf vorbei, und Du kommst so mir nichts, Dir nichts einfach wieder an! Wir haben uns Sorgen um Dich gemacht! Liliana hat sogar im Tempel alle paar Tage eine Kerze angezündet für deine sichere Rückkehr. Und Visaria war uns bei jedem Besuch in den Ohren gelegen, ob wir nicht etwas von dir gehört hätten. In den letzten Wochen sogar noch mehr als sonst, ich glaube, das liegt ja an ihrer Tante.“ Ich setzte vorsorglich eine, so hoffte ich zumindest, schuldbewusste Miene auf. „Wie dem auch sei, du solltest Wissen, dass es in einigen Kreisen mittlerweile bekannt ist, dass Du kein armer Schlucker mehr bist. Sollten sich also in den nächsten Tagen irgendwelche Töchter unserer Konkurrenten oder kleine Grandessas vom Berg auffällig für Dich interessieren und mit ihren Reizen locken wollen… bilde Dir nicht zu viel darauf ein und bei Rahja, ich hoffe ich muss das nicht extra betonen, lass Dich auf nichts ein. Die kleinen Schlangen wollen nichts von Dir, sie wollen an uns und Dein Geld. Hast Du das verstanden?“ Ich war ein wenig geschockt. So klare Worte war ich von Mutter überhaupt nicht gewohnt. Und bei diesem Thema schon gleich gar nicht! Ich meine, ich hatte ja ein Auge auf Visaria geworfen und nicht auf irgend eine dahergelaufene Hafenmöwe. „Victor“, riss mich Mutter wieder aus meinen Gedanken. „Ich meine es ernst! Ich weiß, wie Männer denken. Nämlich nicht immer mit ihrem Kopf! Und du bist der Sohn deines Vaters. Muss ich dich daran erinnern, dass ich dir was solche Dinge angeht einiges an Erfahrung voraushabe? Ich erwarte von Dir, dass du wenn in der nächsten Zeit irgendwelche Dirnen und Gören dir mehr Bein oder Busen zeigen, als es sonst üblich ist, du genau in die andere Richtung schaust – und am besten an irgendwelche Rechentabellen denkst und nicht an den Anblick der sich dir bietet.“ Mutter hatte sich richtig in Rage geredet, weil sie anscheinend den Eindruck hatte, ich hätte sie nicht richtig verstanden. Aber mir dämmerte langsam, was mich demnächst in diesem Piranhabecken, dass sich Al’Anfa nannte, erwarten könnte. Ich nickte pflichtschuldig. „Ja Mutter. Versprochen, ich werde einen kühlen Kopf und meine Hände bei mir behalten…“ Sie legte den Kopf schief, anscheinend immer noch skeptisch, bevor sie seufzte. „Das hoffe ich für dich, Junge. Und jetzt mach dich frisch und leg deine beste Garderobe für das Abendesse an. Wir wollen bei der Präfekta einen guten Eindruck machen.“ Damit schickte sie mich auf mein Zimmer, als wäre ich wieder ein Eleve auf Heimatbesuch während der Akademiezeit. Aber es war Mutter, also durfte sie das wohl, oder nicht? Ich würde jedenfalls einen Dämonen tun, ihr zu widersprechen und trollte mich, nun ganz mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Lange blieb mir dafür jedoch nicht Zeit. Aus dem Nebenzimmer hörte ich Ulmjeschas kichern und Nandurin fröhlich krächzen während ich in meinem Zimmer kaum die immer noch feuchte Robe ausgezogen und gewechselt hatte als ohne anklopfen die Tür aufgerissen wurde. Ich drehte mich mit bloßem Oberkörper um und wollte schon ungehalten den törichten Diener zusammenstauchen, als ich innehielt. Wie ein leibhaftiger Rondrikan stürmte meine Schwester Liliana durch die Tür. „Victor, du bist wieder da!“ jubelte sie, fiel mir um den Hals und warf mich dabei fast von den Füßen. Aus ihrer sorgsam gerichteten Frisur hatten sich ein paar Strähnen gelöst, ihr Gesicht war gerötet, so als wäre sie gerade unziemlich gerannt. Das luftige Kleid das sie trug deutete an, dass sie geradewegs von einer Gesellschaft gekommen war, vermutlich die gleiche auf der auch Visaria gewesen war, und dort von meiner Rückkehr gehört hatte. Ich drückte mein Schwesterchen liebevoll an mich und spürte ihren flatterhaften Herzschlag, während sie in meinen Armen lag. Sie hatte wieder dieses Orchideenparfüm aufgetragen und duftete wie ein kleiner Blumengarten. Ich hielt sie auf Armeslänge Abstand von mir, um sie zu betrachten und lächelte. Mein kleines Schwesterchen wurde zweifellos zu einer jungen Frau – und einer ausgenommen hübschen, möchte ich betonen. Mich würde es ja wundern, wenn sie nicht auch schon jemand hätte, der ihr den Hof machte. Ich würde unbedingt auf die nächste Kaffeegesellschaft mitgehen und mir da einen Überblick verschaffen müssen. Und wenn sie einen Galan hatte, würde ich diesem einmal ordentlich auf den Zahn fühlen und in die Gedanken blicken, ob er auch lautere Absichten hatte. Wehe wenn nicht! Aber Liliana riss mich aus diesem Tagtraum zurück in die Realität, als sie schon begann zu erzählen was ich die letzten Monde zuhause verpasst hatte. Nach wenigen Augenblicken schwirrte mir schon der Kopf und ich vermochte mehr als einmal ihren Gedankensprüngen von Familien und Freunden, Feiern und Gesellschaften, Klatsch und Tratsch aus dem Haus und der ganzen Stadt und ihren Freundinnen und deren Brüdern nicht mehr zu folgen. Ich lächelte, während ich meine Robe fertig anzog und ihrem fröhlichen Geplapper zuhörte.

Als der Gong uns in den Speisesaal rief war es soweit. Ich schluckte, langsam stellte sich wieder diese ungewohnte Nervosität ein. So hatte ich mich zur abendlichen Geschichtsstunde nach meiner Rückkehr noch nie gefühlt. Die Stimmung im Haus war merklich anders als sonst – fast lag eine greifbare Spannung in der Luft. Ich riss mich zusammen. Was sollte das? Da stellte ich mich den mächtigsten Dienern und Dämonen des Namenlosen entgegen, aber scheute mich vor einem Abendessen? Ich straffte mich und versuchte mit möglichst selbstsicherem Schritt den Speisesaal zu betreten. Mit einem kurzen Blick verschaffte ich mir einen Überblick. Die Dame Ulfhart und Visaria waren noch nicht da, vermutlich wurden sie gerade von Mutter in der Eingangshalle in Empfang genommen und würden gleich kommen. Der Rest der Familie war schon da und sah mich erwartungsvoll an. Sie wussten wohl schon, dass es wieder ein spannender Abend werden würde. Kurz blieb mein Blick an der grinsenden Ulmjescha hängen, die bei Nandurin saß um ihm mit dem essen zu helfen, und ich runzelte die Stirn. Das süße schwarze Samtkleid, das ich ihr gekauft hatte, würde ich dringend zu einem Schneider bringen müssen. Es spannte tatsächlich schon etwas um ihre Brust und Hüfte, so als ob sie ihm im letzten halben Jahr entwachsen wäre. Aber sie sah einfach trotzdem zuckersüß darin aus, wie eine richtige kleine Adepta, nur eben sechs oder sieben Jahre vor ihrer Prüfung. In einigen Jahren würde ich auf sie genauso aufpassen müssen was die Kerle anging, wie ich jetzt wohl auf Liliana achten musste.

Ich hatte mich kaum zu meinem Platz begeben, da betrat Mutter mit unseren Gästen plaudernd den Raum und Vater begrüßte die Dame Ulfhart mit einer ehrerbietigen Verbeugung. Ich hingegen hatte nur Augen für Visaria. Bei Rahja, eine schönere Blüte konnte es im Rosengarten der lieblichen Göttin nicht geben. Sie trug ein schwarzes Spitzenkleid aus Seide, das wie ein Wasserfall an ihrem schlanken Körper herabfiel und ihre sanften Kurven betonte. An ihren zarten Armen trug sie dezente Armbänder die bei jeder Bewegung sanft klimperten, die Nägel an ihren langen Fingern waren in einem dunklen rot gefärbt. Die rabenschwarzen Haare hatte sie hochgesteckt und leicht gelockt – die Frisur ähnelte der Lilianas und ich vermutete schwer, dass die beiden vor kurzem beim gleichen Friseur gewesen waren. Ihre sinnlichen Lippen, mit einem sanften Roseton betont, wahren zu einem leichten lächeln in meine Richtung geöffnet und ihre Wangen zart gerötet. Vom Hals hing die Kette, die ich ihr geschenkt hatte, hinab in ihr Dekolleté, und zogen meinen Blick auf die kleinen Rahjahügel, von denen ich so oft geträumt hatte. Aber verloren war ich am Ende in ihren Augen, die sie mit dezenten schwarzen Strichen betont hatte. Aus diesen Augen blitzte es mich an wie Gewitterwolken mit dem zornigen Vorwurf, wo ich gewesen sei und gleichzeitig der sehnsuchtsvollen Verheißung des kommenden Regens auf verdorrtem Land und dem versprechen endlicher Erlösung von der Dürre. Wäre gerade neben mir ein Karakil erschienen, ich hätte es vermutlich nicht einmal bemerkt. Erst ein verstohlener Ellbogenstoß von Liliana holte mich wieder in das hier und jetzt zurück, und auch ich begrüßte unsere Gäste nun mit einer tiefen Verbeugung, die mein rotwerdendes Gesicht verbarg. Was gäbe ich alles dafür mit Visaria direkt jetzt von hier zu verschwinden. Aber das kam natürlich nicht in Frage…

Normalerweise warteten wir ja mit meiner Erzählung bis nach dem Abendessen und zogen uns dann in den Salon zurück. Aber heute war anscheinend alles anders, als sonst üblich. Als das Essen aufgetragen wurde, nahm mich die Dame Ulfhart in den Blick und forderte mich zwischen zwei gezierten Bissen von ihrem Fisch auf, ich möge doch alle Anwesenden nicht so lange auf die Folter spannen und solle ruhig schon einmal beginnen, da ja mein getreulicher Bericht sicher recht lange dauern würde. Und da man Gästen ja solch einen Wunsch schlecht abschlagen konnte und Mutter mir mit einem dezenten Wink zu verstehen gab, ich sollte ruhig anfangen, begann ich also meine Erzählung. Was dazu führte, weil sich Essen und Erzählen zur gleichen Zeit ausschlossen, es sei denn man wollte unziemlich mit vollem Mund sprechen, dass zwar alle anderen ein hervorragendes Mahl genossen, ich aber kaum dazu kam einen Bissen zu mir zu nehmen. In lebhaften Bildern berichtete ich, was seit meinem letzten Aufbruch geschehen war und ließ nur hier und da einmal eine Kleinigkeit aus – es musste ja niemand wissen, dass ich über einen Karunga Kontakt zu einer erzdämonischen Wesenheit hatte. Oder dass wir nun auf Grund eines Flammeninfernos in Teilen des Kalifats nicht mehr so gut gelitten waren. Aber ansonsten hielt ich mich mit meiner Erzählung sehr nahe an der Wahrheit, hatte aber immer Mutter im Blick, die mir mit verstohlenen Gesten zu verstehen gab, wann ich besser bei meinen Erzählungen nicht zu sehr ins Detail gehen sollte. Ich gebe zu, ich ließ mich da manchmal ein wenig hinreißen und Mutter bremste mich aus, als ich von der Tötung des Vampirs erzählte oder mich bei der Beschreibung der Kadaverbestie zu sehr in nicht ganz tischtaugliche unappetitliche Details bei der Darstellung verstieg. Es dauerte einige Stunden, bis ich mit meiner Erzählung zum Ende kam, wir waren schon weit über den Nachtisch und den Digestif hinaus, als ich ein Bild des Tals, der sich öffnenden Globule und des Dämons mittels Auris, Nasus Oculus über dem Tisch erscheinen ließ um die Situation zu verdeutlichen und ein erschrockenes Raunen durch meine Zuhörer ging. Jedem Geschichtenerzähler in den Tavernen der Stadt, der diese Geschichte zum Besten gegeben hätte, hätte ich zu seiner blühenden Fantasie gratuliert. Und doch hatte ich dies alles ja selbst erlebt.

Aber noch etwas war anders als sonst. Bisher hatte ich immer erzählt und alle hingen wie gebannt an meinen Lippen. Das war auch diesmal so. Allerdings hatte die Dame Ulfhart die verwirrende Angewohnheit, immer wieder einmal an bestimmten Stellen interessiert und aktiv nachzufragen, wenn ihr etwas nicht ganz klar schien. Nicht das sie nicht ebenfalls gebannt und neugierig meinen Worten gelauscht hätte, aber die Art wie und was sie fragte ließ mich irgendwann stutzig werden. Im Gegenteil. Aber ihre Fragen waren… erstaunlich präzise. Fragen, die eine bloße Gesellschaftsdame so niemals hätte formulieren können. Und sie schien dabei meine Worte niemals in Zweifel zu ziehen oder mich einer Lüge oder Übertreibung bezichtigen zu wollen, sondern vielmehr tatsächlich daran interessiert zu sein, bestimmte Zusammenhänge besser zu verstehen. Das war irritierend, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Und an den Stellen, an denen sie nachfragte hielt mich Mutter auch nicht zurück, wenn die Details vielleicht etwas zu erschreckend waren oder meine Worte einen Praiospfaffen zum Husten gebracht hätten. Aber trotz dieser ungewohnten Umstände gelang es mir, den Abend spannend zu gestalten, auch wenn ich ihn wohl hungrig beenden würde.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich eine Kleinigkeit, wenn diese auch nur eine seltsame Randnotiz war. Ich hatte während der Erzählung mein Publikum immer wieder wechselnd im Blick, wie es ein guter Erzähler eben macht, auch wenn das meiste meiner Aufmerksamkeit auf Visaria – und wegen ihrer Rückfragen auch immer häufiger auf ihrer Tante lagen. Aber als ich einmal Ulmjescha im Blick hatte erschrak ich fast. Ulmjescha hatte einen Ausdruck in ihren Augen, den ich niemals erwartet hätte. Sie sah immer wieder zwischen Visaria und mir hin und her, wenn sie meinte ich würde sie gerade nicht bemerken. Aber ich hatte mir auf meinen zurückliegenden Reisen nicht nur ein gerütteltes Maß an geschärfter Wahrnehmung angeeignet, sondern auch eine recht beachtliche Menschenkenntnis, wie ich festhalten möchte. Und diese zeigte mir unmissverständlich, dass mich die kleine Ulmjescha mit einem bewundernden, verträumten, fast schmachtenden Blick ansah, der zu einem zornigen, neidischen, ja regelrecht eifersüchtigen Funkeln wurde, wenn sie Visaria in den Blick nahm. Aber dem konnte ich nur eine kurze spanne meiner Aufmerksamkeit widmen, da mich schnell meine eigene Geschichte weiterriss und ich mich immer wieder in Visarias Augen verlor…

Als ich geendet hatte nahm der Abend noch einmal eine unerwartete Wendung. Ich hatte mich schon darauf gefreut nun in den Salon zu wechseln und vielleicht noch die ein oder andere Stunde in ruhiger Umgebung mit der Familie, insbesondere aber mit Visaria und Liliana verbringen zu können, aber die Dame Ulfhart schien andere Pläne – und die schien sie zweifellos zu haben - voranzutreiben. Gerade als die Diener das letzte Geschirr abtrugen verkündete Tsaiane mit seufzender Stimme „Oh, meine Nichte scheint müde, ich denke Sie wird sich nun empfehlen,“ und warf Visaria dabei einen strengen Blick zu, der keinerlei Widerworte duldete. Sehnsüchtig blickte ich ihr nach, als meine persönliche Vision der inkarnierten Rahja in Begleitung meiner Schwester das Speisezimmer verließ. Nicht ohne mir, in einem unbemerkten Moment, will ich anmerken, einen flüchtigen Handkuss zuzuwerfen, der mein Herz einen Augenblick lang aussetzen ließ. Ich wäre ihr am liebsten auf der Stelle nachgerannt, aber ich hätte vermutlich keine drei Schritte geschafft, bevor Mutter mich eingefangen hätte. Die Bitte Tsaianes, diesen „schönen Abend mit einem guten Bosparaner im kleineren Kreis“ abzuschließen bekam ich kaum mit. Erst als uns auch der Rest der Familie bis auf Vater verlassen hatte und auch die Sklavin welche uns die kühlen Gläser gebracht hatte hinausgeschickt worden war, wurde mir bewusst, dass wir nur noch zu dritt am Tisch saßen.

Dann Ergriff die Präfekta das Wort, und was ich da vernahm zog mir im wahrsten Sinne den Boden unter den Füßen fort. „Unser Herr Phex“, und das betonte sie auf eine seltsame Art und Weise“, ist mit Euch, wie mir scheint. Ihr habt neue Handelsbeziehungen ins Horasreich geknüpft in der letzten Zeit. Und Eurer Familie wurden beträchtliche Finanzmittel anvertraut… Es scheint Eure Umtriebigkeit wird vom Grauen gewürdigt. Möglicherweise könnte ich Euch unterstützen diese Mittel solide zu mehren und Eure Position in der Stadt zu stärken.“ Dabei sah sie Vater und mich wieder mit diesem Blick an, den ich heute schon einmal gespürt hatte. „Was ich Euch nun mitteile ist zwingend unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit zu halten. Unsere Stadt wurde vor einem drohenden Angriff der Stoerrebrandt-Allianz auf Port Stoerrebrandt gewarnt. Gesetzt dem Fall dies würde geschehen, würden wir gesichtswahrend eine Entsatzflotte entsenden müssen. Derlei Flottenbewegungen und Mobilisierungen belasten in der Regel die Stadtfinanzen sehr stark. In Verbindung mit dem Haus Stoerrebrandt bleibt zudem zu fürchten, dass die Reduzierung der potenziellen Geldgeber mit einem Anstieg beim Zins für Geliehenes einhergehen wird. Hier kommt ihr ins Spiel: Euch wurden jüngst erhebliche Mittel zur Verwaltung anvertraut, die Euerseits sicherlich Phexgefällige Vermehrung erfahren sollen. Unsererseits besteht ein erhebliches Interesse daran, ein Gegengewicht zur bisherigen Struktur zu etablieren, aus der wir unsere finanziellen Bedarfslagen decken. Kurz, wir denken darüber nach die Vergabe einer neuen Lizenz für die Einrichtung eines Bankhauses zuzulassen, dass Recht Schiffsfrachten zu versichern wäre daran gekoppelt. Wie ihr wisst sind diese Gelegenheiten selten und die Lizenzen rar. Für jemanden der versichern würde das Zinsniveau stabil zu halten, ggf. den Zins kurzfristig auch unter das übliche Niveau zu setzten, würde ich und nach meiner Intervention sicherlich auch einige andere des Rates der Zwölf sich bei der Entscheidungsfindung sehr für einen der Kandidaten verwenden.“

Ich muss die Präfekta recht entgeistert angesehen haben, war doch diese Art politische Umtriebe bisher glücklicherweise an mir vorbei gegangen – und ich hatte auf so etwas auch überhaupt keine Lust. Ganz anders mein Vater, wie ich mit einem Seitenblick zu ihm feststellte. Seine Augen hatten diesen Glanz angenommen. Dieses fiebrige das ihn packte, wenn er in Gedanken bereits die Dublonen an Gewinn zählte, die ihm ein Handel einbringen mochte. Ich sah ihm an, dass die Präfekta ihn an der Angel hatte wie einen Dorsch, der zu fest in den Köder gebissen hatte. Als er meinen Blick erwiderte sprachen seine Augen Bände, als hätte er die Worte laut ausgesprochen: „Victor, wehe du versaust uns das.“

Auch die Präfekta schien meine Zurückhaltung gespürt haben, den zu mir gewandt fuhr sie dann fort. „Eine Verbindung einer Angehörigen des Hauses Ulfhart mit dem Sprössling einer angesehenen Handels- und Bankiersfamilie wäre dann sozusagen nur angemessene Konsequenz. Da ihr selbst respektierter Abgänger der hiesigen Akademie seid, würde der Umstand, dass ihr ein Bastard seid, von der familiären Instanz der Ulfharts geflissentlich ignoriert werden.“

In diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hier war etwas im Gange, das Andere von langer Hand geplant hatten. Und ich war in diesem Spiel nicht mehr als eine Figur auf einem Brett Rote-und-Weiße-Kamele, die von diesen nach Belieben über das Feld geschoben wurde. Zorn wallte in mir auf. Ich hasste es, meines freien Willens beraubt zu werden! Nicht Götter oder Dämonen hatten Macht über meinen Willen, aber diese Frau erdreistete sich, genau das zu tun. Jetzt mögen viele sagen, Victor was willst du denn noch, stell dich nicht so an! Haben die Götter es nicht gut genug mit Dir gemeint? Hat Phex Dich nicht mit Reichtum zugeschissen? Hat Hesinde nicht ihre Gnade über die ausgeschüttet und dich mit Weisheit, Erkenntnis und Macht gesegnet? Hat Travia Dir nicht ein Kind geschenkt? Und jetzt schmeißt Rahja Dir auch noch ihr schönstes Füllen in den Schoß, ohne dass Du Dich groß anstrengen müsstest! Du bist ein undankbarer Wicht! Aber diesen Kritikern will ich sagen, darum geht es doch überhaupt nicht. Natürlich hätten sie mit all diesem Recht. Aber ich habe mir dies unter Gefahren, im Angesicht von Feinden und mit Fleiß und Anstrengung alles selbst erarbeitet! Hier aber wurde mir Visaria wie ein Köder präsentiert um mich zu locken und zu fangen. Keine Anstrengung um sie zu werben, kein Konkurrent den ich ausstechen müsste. Nein. Einfach ein Geschäft, das die Präfekta und mein Vater auf der Grundlage unserer Sehnsucht schließen würden. Ich hatte bisher immer angenommen, dass mir diese Art politischer Ränke und Spielchen, die auf dem Silberberg gespielt wurden, erspart bleiben würden. Immerhin war ich „nur“ der Bastard meines Vaters, wenn auch mit einer besonderen Gabe gesegnet. Aber ich hatte niemals vor mich in dieses Spiel hineinziehen zu lassen – und wäre für alle Granden sicher auch viel zu uninteressant gewesen, überhaupt beachtet zu werden. Meine Welt hatte sich gerade schlagartig auf den Kopf gestellt und man hatte mich nun, mit dem Kopf voran!, in den Sumpf, das Haifischbecken, die Piranhakloake der Intrigen der Oberschicht gestoßen. Und würden Visaria und ich da irgendeine Form von Mitspracherecht haben? Natürlich nicht! Ich musste die Tränen des Zorns, die gerade von mir Besitz ergreifen wollten, mühsam hinunterzwingen. Alles Geld und Gold, das damit verbunden waren, waren mir mit einem verbalen Schlag in die Magengrube gerade egal geworden. Aber welche Wahl hatte ich? Würde ich meine Zustimmung verweigern, Vater und vermutlich auch Mutter würden mir diese verpasste Gelegenheit des sozialen Aufstiegs der Familie niemals verzeihen – und ich mochte meinen Anteil am Gold nehmen, es blieb vermutlich genug übrig, dass sie das Vorhaben auch ohne mich umsetzen konnten. Und die Familie Ulfhart? Ein „Nein“ von mir würde mit Sicherheit bedeuten, dass ich mir jegliche Chance darauf Visaria näher zu kommen auf alle Ewigkeit verderben würde. Eher würde ich mit einem Schiff das Güldenland erreichen, als mit ihr gemeinsam in die Zukunft segeln zu können. Nein, Visaria und ich, wir waren beide einfach nur Teil eines lukrativen Geschäfts ohne eigenen Willen, wenn wir es uns nicht für immer verderben wollten. Wie konnte dieser Tag nur so eine Wendung nehmen? All diese Gedanken zuckten in wenigen Augenblicken durch meinen Kopf.

Es war nicht das Ergebnis, dass ich so verabscheute, denn eigentlich war es ja alles, was ich mir je gewünscht hatte. Es war die Art und Weise, wie es zustande kommen sollte. Mühsam und beherrscht schob ich die Wolken roten Zorns beiseite, die meinen Geist vernebelten. Von einem auf den anderen Augenblick hasste ich die Präfekta Ulfhart aus tiefstem Herzen, ließ mir aber nichts anmerken, als ich ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte. „Euer Angebot ehrt uns, hochverehrteste Präfekta.“ Mein Vater nickte begeistert zustimmend, als ich zu ihm blickte. Ihm war offensichtlich entweder völlig unklar was in mir vorging, oder völlig egal. Mich erstaunte allerdings, dass Vater mir das reden überlies. Wieder hatte ich den Eindruck, irgendetwas verpasst oder nicht mitbekommen zu haben. „Ich bin mir sicher, die Familie Pellisario wird Eurem Vorschlag mit Freuden nachkommen und die phexgefällige Gelegenheit nutzen, die ihr uns geboten habt“. Als sich die Augen der Präfekta und meine auf Vater richteten hörten wir nur ein „Bei Phex, das werden wir,“ und der fiebrige Glanz in seinen Augen und die gierig ineinander verkrallten Finger sprachen ein beredtes Zeugnis davon, was gerade in seinem Kopf vorging. Vermutlich plante er schon unseren Umzug hinauf auf den Silberberg oder etwas ähnliches.

„Dann ist es also besiegelt“ sprach die Präfekta. „Wir werden natürlich noch einiges an Formalia zu klären haben. Ich im Rat der Zwölf und mit meiner Familie, und ihr mit Euren Geschäftspartnern hier und im Horasreich. Aber am Ende wird ein Konstrukt zu unserem beiderseitigen Vorteil stehen, dass unsere beiden Familien stärkt und zum Wohle unserer Stadt ist.“ Dabei reichte sie meinem Vater die Hand, ich wurde tatsächlich einfach außen vorgelassen, so als wäre ich nur eine Dreingabe. „Sobald wir diese Formalitäten geklärt haben, die Verträge geschlossen sind und der Handel unter dem Segen des Phex besiegelt wurde, werden wir als Abschluss die Verlobung Eures Sohnes und meiner Nichte bekannt geben.“ Hatte ich das gerade richtig gehört? Verlobung? Hatte ich gerade mein Einverständnis erteilt, dass mein Vater mich an die Ulfharts wie einen Ballen Baumwolltuch verschachert hatte? Als sich die Präfekta, mit einem hochzufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht, nun ebenfalls verabschiedete, war mir richtiggehend übel und ich wollte eigentlich nur noch auf mein Zimmer.

Aber vorher wartete noch eine weitere Überraschung auf mich. War heute der Tag, an dem mich die Götter ständig überrumpeln wollten? So hatte ich mir meine Heimkehr nicht vorgestellt! Vater kam um den Tisch herum und, ich glaube, dass wahr überhaupt das erste Mal in meinem Leben, nahm mich bei der Schulter und legte den Arm um mich. Das hatte er nicht einmal getan, als mir mein Abschluss an der Akademie ausgehändigt worden war. „Victor, bei Phex. Ich bin stolz auf Dich!“ Hatte ich mich gerade verhört? „Dank Dir wird unser Haus endlich den Aufstieg vollziehen, auf den wir seit Generationen hinarbeiten. Der Berg ist in greifbarer Reichweite! Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Du der Schlüssel sein könntest… ich war ja schon am Überlegen mit welchem Granden wir Liliana verheiraten müssten um dem einen Schritt näher zu kommen. Und nun wirft uns Phex das Glück quasi hinterher. Du musst ihm wirklich einen großen Gefallen getan haben…“ dabei drückte er mich noch einmal seltsam ungelenk an sich – diese Art Gesten waren ihm offensichtlich nicht gewohnt, bevor er mich ebenfalls verabschiedete, um Mutter die frohe Kunde zu bringen. Dass es sich für mich völlig anders anfühlte, schien ihm gänzlich entgangen zu sein. Eigentlich hätte ich nun hüpfend und tanzend zu meinem Zimmer schweben müssen. Stattdessen schlich ich durch unser Haus wie ein gebrochener Mann. Es würde noch einige Zeit dauern, und die Götter mögen es geben, dass ich mich an diese Umstände gewöhnen und mich mit ihnen anfreunden konnte.

Als ich meine kleine Zimmerflucht betrat hatte ich mich zwar wieder halbwegs beruhigt, fühlte mich aber völlig erschöpft. Nicht körperlich, denn der Tag war ja nicht anstrengend gewesen. Aber emotional war ich ausgebrannt, wie ich es bisher noch nicht gekannt hatte. Mein Geist fühlte sich an wie in Watte gepackt und es fiel mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen, der nicht nach kürzester Zeit begann sich im Kreise zu drehen. Leise machte ich mich fertig um zu Bett zu gehen, bevor ich noch einmal nach Nandurin in seinem Zimmer sah.

Seine Krippe hatte man in meiner Abwesenheit durch ein richtiges kleines Bett ersetzt. Mein kleiner Prinz lag friedlich schlummernd darin und neben ihm Ulmjescha, die beschützend den Arm um ihn gelegt hatte. Das brachte endlich wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Die beiden sahen einfach zuckersüß aus, wie sie da so zusammen lagen. Wie lange sie wohl schon so schliefen, seit ich abgereist war? Wenn ich recht überlegte wusste ich gar nicht, ob oder wo Ulmjescha eine eigene Bettstatt hatte. Gesehen hatte ich zumindest noch keine. Nun ja… einem spontanen Impuls folgend löste ich Nandurin vorsichtig aus ihrem Griff ohne die beiden dabei zu wecken, hob ihn hoch und nahm ihn mit zu mir. Ich hätte es ja nicht gedacht, aber es hatte etwas sehr beruhigendes, meinen kleinen Fratz neben mir im Bett zu haben, als ich mich hinlegte. Instinktiv schien er an mich heranzurutschen, und auch wenn es ungewohnt war immer wieder von seiner kleinen Faust gestoßen und seinen Füßchen getreten zu werden war es ein angenehmes Gefühl, seine Wärme neben mir zu spüren. Zwar gingen mir nach wie vor verschiedenste Dinge des Tages durch den Kopf, bis Marbo mich endlich in das Traumreich hinübergleiten ließ, aber ich tat dies wenigstens mit dem beruhigenden Gefühl, endlich wieder zu Hause und bei meinem Sohn zu sein für dessen Sicherheit ich wohl endgültig gesorgt hatte.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, lang konnte es jedenfalls nicht gewesen sein, als mich ein spitzer, erschrockener Schrei weckte. Sofort war ich hellwach und auf den Beinen, nach meinem Stab greifend der neben mir am Bett lehnte. Die Instinkte eines Abenteurerlebens verschwanden nicht, nur weil man mal einen Tag daheim war. Nandurin schien das alles nicht zu tangieren, der schlief einfach ruhig atmend weiter und drehte sich auf die andere Seite. Mit entzündetem Stabende stürmte ich durch die Tür meines Schlafgemachs – und stolperte jenseits der Schwelle fast über die kleine Ulmjescha. Sie hatte einen erschrockenen, ja fast panischen Gesichtsausdruck und stand zitternd in ihrem dünnen Leinennachthemdchen vor mir. „N-Nandurin,“ stammelte sie, völlig aufgelöst. „Er ist w-weg. Ich schwöre, als wi-wir ins Bett sind lag er noch neben mir…“ Und dabei stiegen ihr die Tränen in die Augen und ihr Körper wurde von einem Schluchzer geschüttelt. Betroffen lies ich den Stab sinken, den ich gerade noch in Vorhalte gehabt hatte. Das hatte ich natürlich nicht bedacht. Wenn die beiden nun das letzte halbe Jahr die Nächte so zusammen verbracht hatten, sie ja die Verantwortung für meinen kleinen Mann hatte, dann würde seine unvermutete Abwesenheit für sie sicherlich ein böses Erwachen sein.

Ich wollte die Hand nach ihr ausstrecken, aber sie duckte sich zusammen, so als würde sie erwarten gleich geschlagen zu werden. „Es ist gut, Ulmjescha. Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe Nandurin nur zu mir genommen. Es tut mir leid, wenn du dich deswegen erschreckt hast,“ sagte ich in einem möglichst beruhigenden Tonfall. Es schien kurz zu dauern, bis die Worte zu ihr durchdrangen. Als ich jetzt noch einmal die Hand nach ihr ausstreckte warf sie sich mit einem schluchzen gegen mich, so dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam und ihr dann sanft über die Haare fuhr. Was sie wohl die letzten Monate hier in der für sie völligen Fremde ganz allein und fern ihrer Heimat alles erlebt hatte? Ich würde dringend noch einmal mit Mutter sprechen müssen um mich danach zu erkundigen. Vermutlich war es auch für sie nicht unbedingt einfach gewesen, auch wenn es hier natürlich viel besser war als in Festum. Und ich muss ja zugeben, einen Titel als Vater des Jahres würde ich wahrscheinlich auf Grund meiner langen Abwesenheiten seid Nandurins Geburt auch nicht unbedingt gewinnen, auch wenn ich natürlich alles zu seinem Besten getan hatte. Auf diesem Gebiet hätte ich vermutlich noch einiges zu lernen…

Als Ulmjescha sich wieder etwas beruhigt hatte kam mir der Gedanke, der uns wohl allen am besten dienen würde. „Wenn Du möchtest, Ulmjescha, kannst Du ja zu Nandurin mit ins Bett kommen.“ Fragend blickte ich sie an. Ein kleines, scheues Lächeln stahl sich in ihr Gesicht, das ich nur schwer interpretieren konnte. „Wirklich?“ versicherte sie sich, auf das ich nur nickte. Dann folgte sie mir und die Szene muss für den unbedarfte Beobachter dann ziemlich seltsam ausgesehen haben. Ich lag auf der rechten Seite meines Bettes, nahe am Rand, und hielt Nandurins Händchen. Auf der linken Seite hatte Ulmjescha sich ausgestreckt und wieder den Arm schützend über Nandurin gelegt, eine Geste, die ihr anscheinend schon selbstverständlich war. Nandurin zwischen uns hatte sich an Ulmjescha gekuschelt und schien von alledem nichts mitbekommen zu haben. Es war schon regelrecht ironisch. Da komme ich nach Monaten nach Hause um mit meiner Liebsten wiedervereint zu sein, aber das erste Mädchen das dann in meinem Bett lag – rein platonisch und im übertragenen Sinne versteht sich – war nun nicht Visaria sondern Ulmjescha. Die Zwölfe hatten schon den ganzen Tag über einen recht eigentümlichen Humor bewiesen dabei, mir ihre Dankbarkeit für meine Taten auszudrücken, aber das setzte dem ganzen nun die Krone auf! Wenn ich herausfand welcher der Götter dafür sich verantwortlich zeichnete, ich würde ein ernstes Wörtchen mit ihm sprechen müssen, dass ich diese Art von Humor mitnichten teilte! Mit solchen und ähnlichen Gedanken glitt ich wieder in Borons Arme, neben mir, völlig ungewohnt, den ruhigen Atem von gleich zwei anderen Personen direkt nah bei mir hörend.

Wach wurde ich trotzdem wieder recht früh, als mich die ersten Praiosstrahlen an der Nase kitzelten. Leise stahl ich mich aus dem Bett, ohne Nandurin und Ulmjescha zu wecken. Die Ereignisse des letzten Tages schienen mir fast wie ein wirrer Traum, nur das ich mir des Gegenteils leider nur zu sicher war. Die nächste Stunde saß ich in meinem Studierzimmer auf dem Sessel, darüber sinnierend, was dies nun wirklich alles für mich bedeuten mochte. Aber zu einer abschließenden Konklusio konnte ich auch jetzt nicht kommen. Als wir schließlich alle wach waren und mit dem Rest der Familie beim Frühstück saßen, war es fast wie immer. Vater schien es ziemlich eilig zu haben und verließ uns recht zeitig, nicht ohne mir mitzuteilen, dass er mich zur Mittagsstunde im Kontor erwarten würde „um geschäftliche Dinge zu besprechen.“ Mutter strahlte mich die ganze Zeit an, ich war mir sicher, dass Vater sie direkt in der Nacht noch über alles ins Bilde gesetzt hatte, so als wäre sie sehr zufrieden mit sich und der Welt. Liliana war wie immer, sie wusste vermutlich noch nichts von den letzten Entwicklungen, plauderte fröhlich über ihre Pläne am Nachmittag und das sie doch so gar keine Lust auf ihren Flötenunterricht am Vormittag hatte. Ulmjescha kümmerte sich liebevoll um Nandurin, aber ich hatte den Eindruck das sie jedesmal ein wenig errötete, wenn ich zu den beiden hinüber sah. Leider würde ich die Zeit bis Mittag nur bedingt mit den beiden verbringen könnten, da ich noch einiges zu erledigen hatte, dass ich mir vorgenommen hatte für die nächsten Tage. Und je eher ich damit begann, umso eher würde ich auch endlich Zeit für mich haben.

Während also Ulmjescha mit Nandurin in meinem Zimmer spielte – mein kleiner war recht geschickt im Holzklötze stapeln – saß ich an meinem Schreibtisch und begann einen Brief zu verfassen, den ich an alle Zwölf Kirchen geben wollte. Im Kern erhielt er mein Angebot, dass sie sich, sollten sie bei Hilfe im Kampf gegen Umtriebe des Namenlosen benötigen, sich gerne jederzeit und ohne das ich dafür Entlohnung fordern würde, an mich wenden könnten. In einem kurzen Abriss meiner bisherigen Erlebnisse mit den Dienern des Rattenkinds, zusammengefasst auf wenigen Seiten, versuchte ich, meine uneigennützige Motivation zu erläutern und schloss den Brief mit einem recht konkreten Hinweis auf die Dienerin des Güldenen, Perizel. Vielleicht sah sich ja eine der Kirchen berufen, ihren Umtrieben ein Ende zu setzen. Und falls nicht, würde ich das eben doch selbst erledigen müssen. Abschließend verwies ich auf diverse Götterdiener, die bei Bedarf zu meinen Gunsten Auskunft würden geben können, falls Zweifel an meiner Integrität bestünden. Insbesondere im Horasreich hatte ich ja in den Kirchen der Hesinde, Rahja, Efferd und selbst des Praios durchaus schon Kontakte geknüpft. Und hier in meiner Heimat würden wohl die Diener des göttlichen Fuchses auch nichts gegen meine Person einzuwenden haben. Dieses Schreiben zwölfmal hintereinander zu verfassen kostete mich leider tatsächlich den ganzen Vormittag. In den nächsten Tagen würde ich die Schreiben dann in den Tempeln der Stadt einreichen mit der Bitte, diese über die örtlichen Vorsteher an die Hochgeweihten in den Haupttempeln weiterzuleiten. Bei solch einem Unterfangen brachte es ja nichts, kleine Brötchen zu backen. Nein, da musste man schon ganz oben ansetzen!

Mein nächster Weg führte mich, wie von Vater gewünscht, in sein Kontor, auch wenn mich nach einem leichten Mittagsmahl eine gewisse Müdigkeit übermannte, die Nacht war ja doch recht unruhig gewesen. Diese verflog allerdings auf dem Weg und machte einer starken Neugier Platz. Ich wusste ja tatsächlich immer noch nicht, mit welchen Reichtümern Phex uns jetzt letztendlich gesegnet hatte. Als ich Vater in seinem Büro antraf scheuchte er die anwesenden Schreiber und Diener hinaus. Sein Gesicht war leicht gerötet, was ich auf die Weinkaraffe auf seinem Schreibtisch zurückführte, aus der er auch mir einen Schluck anbot „zur Feier des Tages“. Ihn schienen die Ereignisse der letzten Nacht nicht minder mitgenommen zu haben, wenn auch auf andere Weise, als mich. Dann entrollte er eine lange Liste, an deren Ende Melissas uns seine Unterschrift prangten, die er mir reichte. „Wir haben alle Objekte die mit dem Schatzschiff ankamen unter den Augen eines Priesters des Grauen gemeinsam aufgenommen und bestätigt, damit niemand dem anderen später Betrug vorwerfen könnte. Du weißt ja, beim Gold hört am Ende die beste Freundschaft auf. Und diese Beziehung ist zu wertvoll, als das man sie durch ein Missverständnis würde belasten sollen…“ Er sah mir tief in die Augen. „Wenn Du die Liste durchgehen möchtest, tu Dir keinen Zwang an.“ Ich schüttelte den Kopf. Ich war nun mal kein Krämer, und mein Vater mochte seine Fehler haben, aber ich denke, in diesen Dingen konnte ich ihm trauen, insbesondere wenn der Handel unter den Augen Phexens vollzogen worden war. Als ich nichts weiter sagte setzte er sich neben mich, und deutete mit seinen Fingern auf eine Tabelle am Ende des Dokuments. „Hier haben wir die Anteile herausgerechnet, wem was noch zustehen würde. Jetzt hör mir gut zu, und versuch nicht in Ohnmacht zu fallen bei den Zahlen die ich Dir jetzt nenne.“ Er atmete tief durch. „Der Schatz hatte einen Gesamtwert, manche Dinge waren natürlich nicht ganz exakt zu taxieren, von über 650.000 Dukaten.“ Sein Atem wurde dabei schwer. „Den Löwenanteil hat natürlich deine Freundin Melissa wie vereinbart erhalten, das waren über 450.000 Dukaten. Und davon hat sie die Hälfte in meine Obhut gegeben, um damit den Handel zwischen unseren Reichen voranzubringen und dabei natürlich noch ein wenig Gewinn zu erwirtschaften.“ Mittlerweile stand ihm der Schweiß auf der Stirn und ich befürchtete, er würde gleich einen Herzschlag erleiden. „Der Rest verteilt sich in verschiedenen Anteilen auf Dich und Deine Gefährten. Und jeder von Euch hatte ja auch schon verschiedene Objekte für sich beansprucht, so dass die Auszahlung noch einmal für jeden mehr oder weniger hoch ausfällt.“ Mit einem schweren Schnaufer sammelte er sich, und deutete auf eine Kolonne an Zahlen. „Wir hatten Euch ja schon einen Anteil ausgezahlt als wir das erste Mal aus dem Dschungel zurückgekehrt wart, wenn du dich erinnerst, das waren 240 Dukaten. Die übrigen Sachen habe ich in der Zwischenzeit zu ordentlichem Preis verkauft bekommen. Der Gesamterlös dieser Dinge lag bei exakt 19.471 Dukaten. Dir, der kleinen Nivesin und dem Bergländer stehen daher noch einmal auf die Hand 734 Dukaten zu, den beiden Horasierinnen jeweils 539. Ich habe dafür gesorgt, dass Dein Anteil heute Abend in einer Truhe in Deinem Zimmer auf dich wartet.“ Ich schluckte. Das war jetzt schon mehr, als ich als Handgeld jemals erwartet hätte. „Das Geld deiner Gefährten werde ich verwalten, bis sie uns wieder besuchen um ihren Anteil zu beanspruchen. Es wird nichts verloren gehen, und ich schwöre bei Phex, ihren Besitz zu respektieren und wenn sie es fordern auszuhändigen.“ Ich sah und hörte ihm an, dass er es ernst meinte, auch wenn er das Gold vermutlich am liebsten für sich behalten hätte. „Nun halte dich fest, Sohn, denn ich will das Du begreifst, was ich dir jetzt sage. Ich denke nicht, dass dich die verbliebenen Anteile deiner Gefährten am Schatz interessieren, aber sei versichert, sie könnten sich so wie du beruhigt zur Ruhe setzen, obwohl sie sich schon mehr oder weniger persönlich an den Wertsachen bedient hatten. Du, mein Junge, hast an dem verbliebenen Vermögen einen Anteil von genau 27.554 Dukaten.“ Als ich die Zahl hörte wurde mir tatsächlich etwas schwindlig und ich musste mich am Stuhl festhalten. „Die Summe, die ich damit derzeit für dich, deine Gefährten und die Dame Zeforika verwalte beträgt fast 350.000 Dukaten! Du hast ja keine Vorstellung, was man mit einer solchen Summe alles anfangen kann…“ Und das stimmte, das hatte ich wirklich nicht.

„Ich werde Dir jetzt einen Vorschlag machen, dem Melissa schon zugestimmt hat. Und du solltest das am besten auch tun, also hör gut zu, was ich Dir jetzt sage.“ Wieder sah er mir direkt in die Augen. „Wir werden mit allem Geld, das ihr mich verwalten lasst, eine Stiftung einrichten, ein weiteres Handels- und Bankhaus wenn du so willst. So Phex will, werden wir damit ordentlich Gewinn erwirtschaften, aber das ist natürlich keine garantierte Angelegenheit. Du weißt ja, der Herr Phex gibt, der Herr Phex nimmt aber auch manchmal. Aber damit ihr als Einleger, quasi die stillen Teilhaber, davon kein Risiko davon tragt garantiere ich Euch einen festen Zins von 2 vom Hundert auf euer eingelegtes Geld, fällig jedes Jahr zum 1. Phex, beginnend ab dem Jahr 1030 BF. Ihr könnte Euch das Gold jährlich auszahlen lassen, oder es zur weiteren Mehrung Eures Reichtums wieder einlegen – was auch einfach geschieht, wenn deine Gefährten ihr Geld nicht abholen. Es wird nichts verloren gehen. Wir Händler nennen das eine rethesaurierende Anlage. Euer Reichtum wächst also jedes Jahr, ohne das ihr euch weiter darum kümmern müsstet. Für Dich, Sohn würde das ein garantiertes jährliches Zubrot von 551 Dukaten und 8 Silbertalern bedeuten, ohne dass du dafür einen Finger krumm machen musst. Was sagst Du dazu?“ Ich sagte… gar nichts, denn ich war völlig überrumpelt und es fiel mir schwer die Dimensionen dieser Zahlen gefasst zu bekommen. „Ich werde es mir überlegen,“ war alles was ich mit belegter Stimme heraus brachte. „Dann überleg es Dir gut, denn so eine Gelegenheit wirst du so bald nicht wieder bekommen…“ entgegnete er nur. „Melissa und ich haben uns auch schon einen Namen für diese Unternehmung überlegt. Wir werden, wenn auch Fabrizzio zustimmt, neben dem Hauptkontor hier bei mir kleinere Außenstellen in Mengbilla bei Melissa und in Bethana bei ihm einrichten. Also wollen wir uns mit dem klingenden Namen Styftung zur Förderung des gedeihlichen Handels zwischen den Gestaden der Goldküste und des Perlenmeeres SFgHGGP nennen. Denn darauf wollen wir uns zunächst im Schwerpunkt konzentrieren um die Synergien unserer bestehenden Strukturen zu nutzen. Das Risiko dieser Handelsrouten ist überschaubar, die Routen beständig und es mag ertragreichere Ziele geben, aber der Verdienst dürft bei der richtigen Auswahl der Wahren dennoch ausreichen, um nach Abzug aller Kosten inklusive Eurer Anteile einen vernünftigen Ertrag zu erzielen.“ Er nickte bestätigend, eher zu sich selbst. „Und falls die von der Präfekta gestern angedeutete Lizenz an uns fällt und dies mit Billigung der Obrigkeit auch noch eine Bankiers- und Versicherungskomponente erhält, dürfte das den Gewinn noch einmal deutlich steigern. Bei Phex, ich hätte nie gedacht, dass sich uns eine solche Gelegenheit zu meinen Lebzeiten bieten würde!“

Ich muss wohl etwas blass gewesen sein, denn Vater schenkte mir nun wirklich einen Becher Wein ein und hielt ihn mir hin. „Trink Sohn, du siehst aus als könntest du es gebrauchen.“ Dann klopfte er mir auf die Schulter. „Wäre das heute Nacht nicht passiert und du jetzt quasi schon fest mit Visaria liiert, ich hätte dir ja nahegelegt dich darum zu bemühen, die Dame Melissa Zeforika ins Bett und vor den Traviaaltar zu bekommen, sie schien ja auch große Stücke auf dich zu halten. Das hätte den Bund noch einmal ganz anders gefestigt! Aber so sieht es wohl aus, dass wir mit den Zeforikas auf einer rein vertraglichen Beziehung weiterarbeiten werden und du über Visaria unsere Verbindung zu den Ulfharts stärken wirst. Das ist natürlich mindestens genauso gut. Ich möchte, dass Du gut auf dich aufpasst in den nächsten Monden, und kein unnötiges Risiko eingehst. Du bist jetzt viel zu wertvoll, als das wir dich wieder bei irgend so einer abenteuerlichen Unternehmung verlieren dürfen! Hast du das verstanden? Wir müssen in absehbarer Zeit auch nach Bethana reisen, um Fabrizzio von der Sache zu überzeugen. Ich hätte mir gedacht, das könnte doch etwas für dich sein, oder? Ihr versteht euch ja so gut. Und zur Sicherheit kann deine Mutter dich begleiten, um auf alles ein Auge zu haben, dann wirkt es auch gleich viel freundlicher. Ein Familienbesuch, statt einer Geschäftsreise. Überleg dir einfach, wen du vielleicht sonst noch mitnehmen möchtest. Ich sende Fabrizzio auf jeden Fall schon einmal einen Brief mit dem nächsten Schiff, das er sich auf einen Besuch durch uns einstellen kann.“

Damit war meine Audienz offensichtlich beendet, der Nachmittag war auch schon weit fortgeschritten als wir fertig waren, und ich machte mich auf zurück zu unserer Villa, musste ich doch das gehörte erst einmal verdauen.

Auf dem Weg zurück machte ich mir in Gedanken erst einmal eine kleine Liste, was ich noch alles dringend erledigen wollte. Die Briefe an die Kirchen hatte ich ja schon vorbereitet und das überreichen wollte ich persönlich machen und nicht einfach einem Diener übertragen. Dann müsste ich auf jeden Fall endlich Zeit finden mit Visaria persönlich zusammenzufinden. Das wir uns gestern Abend nur gesehen hatten mochte ich nicht gelten lassen, gerade angesichts dessen was uns bevorstand. An meiner Akademie wollte ich natürlich auch noch vorsprechen. Die Tragweite meiner Erlebnisse wäre etwas, was ich zumindest der Spektabilität zu Ohren bringen sollte, egal ob man mir dort glauben mochte oder nicht. Und für die nächsten Reisen würde ich meinen Notvorrat an Heiltränken noch auffrischen müssen, also den Markt aufsuchen und mich nebenbei der Herstellung widmen. Dann wollte ich ja wegen Ulmjescha noch ein Wort mit Mutter wechseln. Außerdem hatte ich noch, nachdem mir ja jetzt die Dukaten aus dem Anus quollen ein oder zwei Artefakte, die ich gern in Auftrag geben wollte, statt sie selbst herzustellen. Die Frage war nur, ob ich dies hier vor Ort erledigen lassen konnte oder dafür doch noch einmal nach Kunchom müsste. Eine persönliche Nachricht an Fabrizio wollte ich auch noch aufsetzen und Vaters Depesche beilegen, das war ich meinem Freund schuldig. Und nach den zahlreichen Reisen und auf Grund meiner finanziellen Situation würde ich mir auch gerne noch eine zusätzliche Garde-Robe schneidern lassen. Meine gute Robe war zwar immer noch hervorragend in Schuss, da ich ja unterwegs in der Regel das Reisegewand trug, aber eine zusätzliche dunkle Robe für repräsentative Zwecke würde sicher nicht schaden. Auf diesen Gedanken hatte mich die Kollega gebracht, welche die Dame Ulfhart begleitet hatte als ich dort war. Diese hatte sicher auch mehr als nur ein solches Kleidungsstück im Schrank hängen. Und das alles neben den sonstigen familiären Verpflichtungen… ein Seufzer entrang sich meiner Brust.

Das heimische Anwesen erreichte ich völlig in Gedanken verloren und nahm die Diener die mich grüßten kaum war, als ich zu meinen Zimmern ging. Es konnte auch nicht mehr allzu lange bis zum Abendmahl sein. Als ich meine Tür öffnete sah ich Ulmjescha, die Nandurin gerade in ein neues Hemd half, da er sich beim Spielen wohl wieder einmal schmutzig gemacht hatte. Und Mutter mochte es überhaupt nicht wenn man unordentlich zum Essen erschien, egal wer es sein mochte. Das war sozusagen eine eherne Regel, die in der Familie galt. Als Nandurin mich sah riss er sich von Ulmjescha los, stürmte auf mich zu, breitete die Arme aus und ich nahm ihn lachend in Empfang. „Dada wieder da!“ krähte er fröhlich, während ich ihn an mich drückte. Und dann geschah etwas schier Unglaubliches. Zumindest hatte ich es nicht erwartet. Ulmjescha, die anscheinend kurz gebraucht hatte die Situation zu erfassen oder sich zu entscheiden, eines von beiden wird es wohl gewesen sein, eilte Nandurin hinterher. Ich hätte erwartet, um ihn einzufangen und erst einmal fertig anzukleiden. Stattdessen breitete sie, kurz bevor sie uns erreichte, ebenfalls die Arme aus, fiel mir um den Hals und drückte sich an mich, so dass ich alle Mühe hatte nicht nach hinten überzuplumpsen ob des unerwarteten Ansturms. Ich zögerte nur kurz und musste die Überraschung die sich meiner bemächtigte erst einmal verarbeiten – natürlich in der gewohnten Blitzeseile meines Geistes. Auf der einen Seite freute es mich ungemein, dass sie anscheinend die Scheu vor mir verlor, langsam die Furcht, die ihr ihr bisheriges Leben eingepflanzt hatte abzulegen schien. Auf der anderen Seite war dieses Verhalten natürlich zwischen einem Herrn und seiner Dienerin ein absolut unangebrachtes Verhalten. Mutters entrüsteten Aufschrei konnte ich quasi im Kopf hören, hätte sie diese Szene beobachtet. Ich war kurz hin und her gerissen dazwischen, Ulmjescha sanft zurückzustoßen oder sie ebenfalls in den Arm zu nehmen. Die Götter mögen wissen warum, ich entschied mich jedenfalls nach kurzem Zögern für letzteres. Hatte ich ihr nicht erst vor einem halben Jahr erklärt, dass sie nun zu unserer Familie gehöre? Und hatte ich ihr nicht erst vor Stunden in einem Anflug von seltsamer Sentimentalität erlaubt mit in meiner Bettstatt zu liegen? Würde ich sie nun von mir weißen, was mochte das für ihr Vertrauen, dass sie anscheinend in mich setzte bedeuten? Vielleicht sollte ich langsam Anfangen, Ulmjescha eher als eine Art großer Adoptivschwester für Nandurin zu sehen, als nur als Dienerin und Kindermädchen. Also fand ich mich im Eingang meines Zimmers hockend mit zwei sich windenden Kindern im Arm, die sich alle Mühe gaben, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, bevor ich sie mit einem Lachen fortscheuchte, sich für das Abendessen fertig zu machen. Nandurin rannte sofort los quer durch das Zimmer um sich von Ulmjescha wieder einfangen zu lassen, diese kichernd hinter ihm her, nicht ohne mir über die Schulter wieder eines dieser Strahlen zuzuwerfen, die daneben die Praiosscheibe verblassen ließen. Als sie beide endlich fertig waren stürmten sie zusammen schon wie Wirbelwinde in Richtung des Speisezimmers davon. Ich selbst war noch dabei mich frisch zu machen und ein Hausgewand anzuziehen, da wir heute ja keine Gäste erwarteten. Zumindest manchmal gönnte ich mir daheim den Luxus, auch einmal keine formelle Robe zu tragen.

Ich knöpfte gerade mein Hemd zu, als meine Tür schon wieder ohne anklopfen aufgestoßen wurde. Nach der Erfahrung von gestern wand ich mich lächelnd um, meine fröhliche kleine Schwester Liliana erwartend – und stutzte. Zwar war sie es, aber der Gesichtsausdruck den sie mir präsentierte passte so gar nicht zu meiner Erwartung. War sie gestern wie ein Rondrikan hereingekommen, war es heute schon ein ausgewachsener – und überaus zorniger – Beleman, mit dem sie in mein Zimmer stürmte. Ich war kaum dazu gekommen die Stirn zu runzeln, da fing sie auch schon, die Tür hinter sich zuwerfend, an, auf mich einzureden. „Victor! Was hast Du angestellt? Ich war heute Nachmittag mit Visaria beim Alchimisten, wir wollten uns ein neues Parfüm aussuchen. Sie hat gestern sogar noch gesagt, sie würde extra eines für dich haben wollen, ich müsse ihr unbedingt verraten was du am liebsten magst! Und als wir uns heute getroffen haben war sie völlig aufgelöst! Sie hat erzählt, dass ihr bald Heiraten werdet! Einfach so! Stimmt das? Hast Du mir etwas verheimlicht?“ Und dabei stemmte sie die Arme in die Hüften und funkelte mich böse an. Ich schluckte. So kannte ich meine Schwester überhaupt nicht. „Lili…,“ versuchte ich beschwichtigend zu sagen, ich war der Einzige der sie so nennen durfte, ohne dass sie einen Wutanfall bekam. „Wirklich, es ist ganz anders als du denkst. Ich bin nicht schuld!“ Dabei setzte ich mich auf meinen Sessel um ein wenig Zeit zu gewinnen. „Also, wie ist es dann? Ihre Tante hat ihr es heute Morgen beim Frühstück verkündet, als wäre es das normalste der Welt! Die arme Visaria weiß seitdem gar nicht, wie ihr geschieht!“ Ich nahm Lilianas Hand in die meine. „Ich schwöre dir bei Hesinde und Boron, es ist nicht meine Schuld. Tsaiane Ulfhart und Vater haben einen Handel geschlossen, du weißt schon, wegen dem Gold aus dem Dschungel, und am Ende soll diese Hochzeit den Handel und die Verbindung unserer Häuser besiegeln…“ dann erzählte ich ihr in kurzen Worten, was gestern Nacht geschehen war. Dabei schien sie sich langsam etwas zu beruhigen, immerhin kannte sie die Spiele, die in der gehobenen Al’Anfaner Gesellschaft gespielt wurden, wahrscheinlich sogar deutlich besser als ich. Als ich zum Ende kam meinte sie dann „Aber Du hast auch nicht nein gesagt!“ und hatte dabei einen vorwurfsvollen Ton in der Stimme. Da konnte ich ihr natürlich nicht widersprechen und schüttelte den Kopf. „Nein, du hast recht. Aber was hätte ich den tun sollen? Hätte ich gestern abgelehnt, ich hätte von ihrer Tante vermutlich nie wieder die Erlaubnis erhalten, um Visaria zu werben. Und wie würdest du es denn aufnehmen, wenn jemand das Angebot deiner Hand erst ausschlägt, um später noch einmal angekrochen zu kommen, als hätte er es sich jetzt doch noch einmal überlegt, als wärst du es nicht von Anfang an wert gewesen? Ich hatte wirklich keine andere Wahl, Lili. Du musst mir glauben, ich hätte es auch lieber anders gehabt, eine eigene Entscheidung treffen zu können. Nicht dass ich mich je gegen Visaria entschieden hätte, aber so und jetzt…“ Ich ließ traurig den Kopf hängen. Meine Schwester war vermutlich der einzige Mensch, dem ich in dieser Sache offen meine Gefühle zeigen konnte.

Sie rückte näher an mich heran und drückte mich. „Ach Victor…“ Ihrem Tonfall entnahm ich, dass sie mir bereits verziehen hatte. „Es ist ja nur wegen Visaria. Es ist auch nicht so, dass sie es ja nicht auch wollen würde. Aber sie hatte es sich so ganz anders vorgestellt. Du weißt schon… romantische Bootsfahrten, geheimnisvolle Maskenbälle, rahjagefällige Tänze… sie wollte einfach das du sie umwirbst, bevor du vor ihr auf die Knie fällst und um ihre Hand anhältst. Sie kennt dich ja kaum!“ Jetzt verstand ich. Wie konnte ich nur so dumm sein? Visaria, sie war gerade einmal 14 Götterläufe alt und ich vielleicht ihre erste Schwärmerei, ging es im Grunde genommen nicht anders als mir. Ich hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt. Wenn sich meine Welt um mich drehte, verlor ich vielleicht leider manchmal den Rest um mich herum ein wenig aus dem Blick. Als ich diesen Gedanken erst einmal ergriffen hatte traf es mich wie Rondras Blitzschlag. Ich hätte noch eine Chance, es doch richtig zu machen! Langsam den Kopf wieder hebend blickte ich meiner Schwester in die Augen. „Lili, ich danke dir. Ich glaube, ich weiß jetzt was ich tun muss.“ Am entsetzten Gesicht meiner Schwester sah ich, dass sie gerade eine völlig falsche Schlussfolgerung zog. „Nein, ich werde natürlich nicht hingehen und das Angebot doch noch ablehnen. Niemals! Es gibt kein Mädchen, nach dem ich mich mehr sehnen würde, als nach Visaria. Aber ich kann ihr vielleicht doch noch all das bieten, was sie sich wünscht, bevor die Verlobung offiziell verkündet wird…“ Innerlich jubelte ich, dass Hesinde mich mit dem schärfsten Verstand gesegnet hatte, den man südlich der Khom finden mochte. „Hör mir gut zu, ich brauche dabei vielleicht deine Hilfe…“ Neugierig beugte sie sich zu mir vor. „Wir werden bald eine Reise ins Horasreich antreten müssen um die Konditionen des Handels auch noch mit Fabrizzio und Melissa zu besiegeln. Wenn ich diese Reise nun nicht allein antreten würde… Vater meinte schon er will mir Mutter als Aufpasserin und fürs Geschäft mitschicken. Nandurin und Ulmjescha will ich ohnehin mitnehmen, damit er wieder einmal mit Miguel zusammenkommt. Und wenn jetzt du auch noch mitkommen würdest und wir Visaria auch noch mitnehmen, sozusagen eine Urlaubsreise zur kulturellen Bildung für euch beide… dann könnten wir im Horasreich all das machen, was Visaria ansonsten entgehen würde. Ich weiß, es ist nicht das gleiche, aber wenigstens…“ Ich kam gar nicht dazu den Satz noch weiterzuführen, weil Liliana mir um den Hals fiel und mich herzte. „Ich wusste es! Du bist einfach der Beste, Bruderherz!“ Jetzt strahlte sie mich wieder an, so wie ich sie kannte. „Das ist die beste Idee, die du je hattest!“ Das bezweifelte ich zwar, weil ich ja schon sehr viele hervorragende Ideen hatte, aber das Lob gefiel mir natürlich. „Aber wir müssen es geschickt anstellen, damit ihre Tante Visaria erlaubt mitzugehen,“ meinte sie. Da hatte sie selbstverständlich recht. Ich hatte, ehrlich gesagt, noch keinen blauen Dunst, wie wir das Vorhaben in die Tat umsetzen sollten. Aber wenigstens hatten wir jetzt einen Plan. Wieder bester Laune zog mich Liliana aus dem Sessel hoch. „Komm schon, wir sind am Ende noch zu spät zum Abendessen… nicht das Mutter schimpft,“ und ihre Hand haltend gingen wir gemeinsam grinsend, als hätten wir gerade zusammen die Verschwörung von Gareth geplant, in Richtung des Speisezimmers. Ich erzählte Liliana aber lieber nicht, was unsere Eltern sowohl für sie selbst als auch mich schon an Pläne für die Zukunft geschmiedet hatten, wäre nicht dieser Umstand eingetreten…

Das Abendessen verlief zum Glück einmal weniger aufregend. Vater und Mutter waren jedoch auffällig guter Laune, was sich auf die ganze Tischgesellschaft übertrug. Und heute kam auch ich dazu, vernünftig die verschiedenen Leckereien zu schnabulieren, wenn auch die Tafel heute natürlich deutlich weniger opulent war als am gestrigen Abend. Dennoch… verglichen mit dem, mit was ich mich regelmäßig auf meinen Reisen zufrieden geben musste war dies ein Mahl, das eines Königs würdig gewesen wäre und das ich mit vollen Zügen genoss. Als das Geschirr abgetragen wurde und sich die Gesellschaft langsam auflöste, Ulmjescha brachte Nandurin ins Bett, einige andere Geschwister hatten wohl noch Arbeit zu tun da meine Eltern planten in den nächsten Tagen ein paar Tage auf der Plantage zu verbringen und Vater wollte noch einmal einige Dokumente in seinem Arbeitszimmer durchgehen. Liliana hingegen schien an meiner Seite bleiben zu wollen. Ich hätte das zwar lieber unter vier Augen gemacht, aber ich ergriff die Gelegenheit und bat Mutter, kurz zu warten, weil ich sie noch etwas zu fragen hätte, als keine Diener mehr im Zimmer waren.

„Mutter, hättest Du einen Augenblick?“ Sie sah mich verwundert und fragend an. „Ich muss dich das einfach fragen, weil du von allen diejenige bist, die am besten weiß was in diesem Haus geschieht.“ Diese kleine Schmeichelei gefiel ihr offensichtlich, wenn sie sie natürlich auch sofort durchschaute. „Hast du, oder irgendjemand anderes etwas über Ulmjescha zu klagen? Hat sie sich etwas zuschulden kommen lassen?“ Nun sah mich Mutter ehrlich überrascht an. „Wie kommst du darauf, Victor?“ Sie hatte oft die enervierende Angewohnheit, anstatt meine Fragen einfach zu beantworten, mit einer Gegenfrage zu reagieren, aber das kannte ich schon, auch wenn ich es überhaupt nicht mochte. Aber wer wäre ich, Mutter zu kritisieren? „Naja, ich habe zwei Dienerinnen tratschen hören. Eine davon meinte, Ulmjescha hätte den Phex im Leib. Ich habe mich gesorgt, dass sie sich am Eigentum der Familie vergriffen hätte und deswegen vielleicht ärger bekommen könnte?“ Ich legte den Kopf schief und sah Mutter fragend an. „Victor, ich sage dir, ich habe selten so ein liebes Kind wie die kleine Ulmjescha gesehen. Phex im Leib!“ Sie zog scharf die Luft ein. „Sei versichert, wenn sie eine Diebin wäre, du hättest sie bei deiner Heimkehr nicht mehr in diesem Haus vorgefunden, wenn dem so gewesen wäre, egal ob du sie ins Haus gebracht hast oder nicht.“ Dann überlegte sie kurz. „Nein, ich denke nicht, dass man ihr da irgendetwas vorwerfen kann. Manchmal ist sie vielleicht etwas vorlaut gegenüber den anderen Dienern, fast schon frech. Sie lässt sich auch von den Älteren nicht alles gefallen und hat es deswegen gerade bei den Weibern nicht unbedingt einfach. Freunde hat sie jedenfalls so gut wie keine bei den anderen Dienern, zumindest keine von denen ich wüsste. Vielleicht ist sie etwas einsam. Ich habe nur manchmal die Sorge, dass sie sich vielleicht zu sehr einbildet zur Familie zu gehören und sich deswegen zu viel herausnimmt. Ich meine, sie ist am Ende doch nur ein Gossenkind. Ohne dir jetzt vorwerfen zu wollen, dass du sie mitgebracht hast. Mit Nandurin klappt das ja wunderbar. Also sei beruhigt, da gibt es nichts, worum du dich sorgen müsstest.“ „Wenn Du wüsstest…,“ dachte ich bei mir, „dass sie sich der Familie so nahe fühlte dürfte ja dann sogar meine Schuld sein.“ Laut sagte ich aber. „Dann bin ich ja beruhigt. Ich hatte einfach nur Sorge, das während ich weg war etwas vorgefallen wäre…“ Ich machte eine kurze Kunstpause. „Im gleichen Gespräch hat die Dienerin übrigens auch deinen Enkel Nandurin als ‚Dämonenbrut‘ bezeichnet.“ Der Wechsel ihrer Gesichtsfarbe von aschfahl zu tiefstem Purpurrot geschah mit der Geschwindigkeit, mit der eine Sturmflut auf die Kaimauern im Hafen traf und ihre Stimme ging sofort zwei Tonlagen in die Höhe. „Wie? Was? Sofort rückst du damit heraus, welches Lästerweib sich solcherart über unsere Familie äußert!“ Mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet… während ich nach außen neutral wirkte war ich innerlich sehr zufrieden mit mir. „Es ist die Amme, die du von ihrer Aufgabe entbunden hast. Vielleicht hat sie es nicht so gut aufgefasst, von Ulmjescha verdrängt und von dir der Arbeit entbunden worden zu sein?“ „Das ist noch lange kein Grund, so über unsere Familie zu reden! Es ist mir ja herzlich egal, wenn die Diener übereinander reden und lästern, das war schon immer so. Aber über die Herren haben sie sich gefälligst nicht das Maul zu zerreißen. Und deinen Sohn als Dämonenbrut zu bezeichnen, er ist halt etwas besonderer als andere Kinder, das werde ich nicht dulden! Wenn wir auf die Plantage gehen werden wir dieses Lästerweib mitnehmen. Aber ohne sie zurück in die Stadt gehen. Soll sie in Zukunft für die Sklaven kochen. Solche Hexen will ich nicht in meinem Haus haben!“ Damit war es wohl entschieden, und ich hatte meine kleine Rache bekommen. Das sollte den anderen Dienern und Sklaven eine Lehre sein, sich umzusehen und nicht über Nandurin – und auch Ulmjescha – zu tratschen!

Ich brachte Liliana noch zu ihrem Zimmer und wir drückten uns zum Abschied gute Nacht. Sie hauchte mir einen Kuss auf die Backe und flüsterte leise. „Ich meine es ernst, Victor. Du bist der beste Bruder… ich werde Visaria gleich morgen von unserem Plan erzählen. Ich hoffe, sie weint sich heute nicht in den Schlaf… hab dich lieb, Bruder.“ Wir drückten uns noch einmal, und ich ging, das erste Mal seit gestern Abend, wieder mit einem guten Gefühl und beschwingtem Schritt zu meinem Zimmer. Die letzte Stunde vor dem Schlafen wollte ich nutzen, um meinen Brief an Fabrizzio zu schreiben. Als ich das Zimmer betrat hörte ich aus dem Nebenraum zweistimmiges leises Kichern – und es war nicht aus Nandurins Kämmerchen, sondern aus meinem Schlafzimmer! Was hatte das zu bedeuten? Bewusst geräuschvoll schloss ich die Tür, und das Kichern verstummte augenblicklich. Als ich die angelehnte Tür zum Nebenraum einen Spalt weit öffnete um hineinzusehen lagen Nandurin und Ulmjescha in ihren dünnen leinernen Nachthemdchen in meinem Bett, so wie wir gestern gemeinsam eingeschlafen waren und stellten sich schlafend. Offensichtlich hatten die beiden beschlossen, dass dies nun unsere gemeinsame Schlafstatt wäre. Was hatte ich mir da jetzt wieder eingebrockt? Mutter würde das zumindest nicht gutheißen, da war ich mir sicher. Vermutlich war es genau das, was sie vorhin gemeint hatte… aber ich brachte es einfach nicht über das Herz, die beiden, oder selbst nur Ulmjescha, hinauszuwerfen und wieder in die Kammer zu schicken. Im Gegenteil, die beiden so vertraut zu sehen, wie sie offensichtlich nur auf mich warteten, brachte ein angenehmes, warmes Gefühl in meine Magengegend, dass sich heimelig wie Travias Herdfeuer anfühlte. Sacht lehnte ich die Tür wieder an um mich der Schreibarbeit zu widmen. Nur einige wenige Male war noch ein leises Kichern zu hören, das ein weniger scharfsinniger Mensch als ich nicht einmal wahrgenommen hätte, bevor es in die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge der beiden Kinder überging. Als ich ein gutes Stundenglas später ebenfalls zu Bett ging und mich vorsichtig neben die Beiden legte war Ruhe eingekehrt und ich doch wieder halbwegs mit mir selbst und der Welt versöhnt. Eine bessere Nacht hätte ich mir nur vorstellen können, wenn ich sie vielleicht mit Visaria hätte verbringen dürfen. Aber gedulde dich mein Herz, auch diese Tage werden noch kommen… mit diesen glücklichen Gedanken glitt ich in die Traumlande hinüber.

Als ich in den frühen Morgenstunden erwachte fühlte ich mich nach den aufwühlenden Erlebnissen der letzten beiden Tage das erste Mal wieder zufrieden und ruhig. So gut wie heute Nacht hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Die beiden Kinder neben mir schlummerten noch, aber nun merkte ich auch, was mich geweckt hatte. Nandurins hatte seine kleine Faust wie ein Arenagladiator geballt und in mein Gesicht geschoben. Den Daumen der anderen Hand hatte er im Mund, nuckelte ausgiebig im Schlaf daran. Er war einfach nur zuckersüß, mein Kleiner. Dann wurde ich noch einer weiteren Berührung gewahr. Ulmjescha hatte wieder den Arm um Nandurin gelegt und ihn an sich gezogen, aber ihre kleine, weiche Hand lag zart wie ein Federhauch auf meinem Arm. Wieder musste ich lächeln. So friedvoll also konnte das Leben auch sein… vorsichtig löste ich mich von den beiden und machte mich im Nebenzimmer fertig für den Tag. Die beiden wachten erst auf als ein Klingeln am Gang ankündigte, dass demnächst das Frühstück im Salon bereitstehen würde.

Zu Dritt machten wir uns auf den Weg und nahmen gemeinsam mit dem Rest der Familie unser Frühstück ein. Liliana grinste immer wieder verschwörerisch zu mir herüber, was ihr ein fragendes Stirnrunzeln von Mutter einbrachte, die aber nichts weiter dazu sagte. Die meiste Zeit drehte sich das Gespräch heute jedoch über den baldigen Aufenthalt auf unserer Plantage, was mir in Erinnerung rief, dass ich nur noch wenige Tage Zeit hatte die wichtigsten Angelegenheiten in der Stadt zu regeln. Wir würden zwar nur eine Woche die Landfrische genießen, aber trotzdem, es gab genug was ich gern vorher erledigt haben wusste. Nach dem Essen schickte ich Ulmjescha ihr gutes Kleid holen, ging dann mit ihr zu unserer Näherin und wies sie an, von Ulmjeschas Kleid unten am Saum ein Stück abzunehmen und dieses oben an der Hüfte und im Brustbereich hinten wieder einzusetzen. Hier im Süden langte es ja auch, wenn das Kleid nicht bis zu den Knöcheln, sondern bis knapp unters Knie ging. Ich dachte, damit sollte es auch das nächste Jahr über noch passen. Und falls nicht, würde man es ja auch noch einmal weiter kürzen können zur Not.

Den Rest des Morgens vor der Mittagshitze wollte ich nutzen um einige Erledigungen zu tätigen. Mein erster Weg, heute ließ ich mich dann ausnahmsweise einmal mit der kleinen Sänfte durch die Stadt tragen anstatt selbst zu gehen, führte mich zu unserem Kontor um den Brief an Fabrizzio Vaters Schreiben beizufügen. Viel Zeit hatte Vater nicht für mich, das Geschäft nahm wieder seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, aber es genügte um mir mitzuteilen, wenn ich schon wieder da sei könne ich mich ja auch nützlich machen und ihn morgen Nachmittag zu einem Handelsabschluss begleiten. Nur zur Sicherheit, falls meine Fähigkeiten dort hilfreich sein würden. Auch wenn ich keine Schulden mehr bei ihm hatte, die Angewohnheit das er mich einspannte wie es ihm passte würde sicher nicht so schnell vergehen. Aber ich war gerade so zufrieden mit mir selbst, dass ich seinem Ansinnen gern zustimmte.

Als nächstes ging ich zu meiner Alma Mater, der Universität und der magischen Fakultät. Abgesehen davon, dass ich mich noch obligatorisch wieder zurückmelden musste, was ich ja schon auf Grund der vielen Ereignisse der letzten Tage verschleppt hatte, wollte ich auch noch um eine Audienz bei der Spektabilität bitten, um ihn über die aus magischer Sicht interessanten Aspekte meiner Reise in Kenntnis zu setzen. Das man natürlich nicht aus dem Stand heraus einen Termin bei einer vielbeschäftigten Persönlichkeit wie der Spektabilität von Zornbrecht-Lomarion erhielt war mir selbstverständlich bewusst. Und das war mir durchaus recht, denn ich würde meinen mündlichen Bericht auch gerne vorbereitet in schriftlicher Form für die Akten des Hauses mitbringen, und das würde mich sicher noch einige Abende kosten, dies in adäquater Form zu Papier zu bringen. Der Sekretarius gewährte mir, auch da ich keine Anstalten machte die Sache mit einem angemessenen Handgeld zu beschleunigen, einen Termin in zwei Wochen. Den genauen Termin, ich nehme das hier einmal vornweg, erfuhr ich allerdings erst von einem Boten am nächsten Morgen, der die Nachricht in mein elterliches Haus brachte. Dies sollte für meine Zwecke ausreichen und dann wären wir ja auch wieder von der Plantage zurück. Zufrieden machte ich in Gedanken erst einmal einen Haken hinter die Angelegenheit. Womit ich nicht gerechnet hatte war, dass mich Hesinde, im übertragenen Sinne, auf dem Weg aus der Akademie hinaus mit ihrem Schlangenstab schlug und an meine Verpflichtung erinnerte, in ihrem Sinne zu handeln.

Was ich damit meine? Nun, als ich durch die geheiligten Korridore und Hallen gen Ausgang strebte fühlte ich mich zwischen den geschäftig umhereilenden Eleven und Novizen um einige Jahre zurückversetzt, als ich an ihrer Stelle war. Unwillkürlich bemächtigte sich eine Welle der Nostalgie meiner Person und ich verharrte, die emsige Atmosphäre genießend, im Kreuzgang als es geschah und mich völlig überraschend überkam. Aus dem angenehmen Gefühl wurde mit einem Mal das genaue Gegenteil. Auslöser war wohl, als ich einen, anscheinend neuen Professor, zumindest kannte ich ihn nicht aus meiner eigenen Studienzeit, mit einem süffisanten Grinsen das Studien- und Handgeld von seinen Scholaren kassieren sah, bevor er sich bemüßigte, seinem Lehrauftrag nachzukommen. Auf einmal erinnerte ich mich auch wieder an die Schattenseiten meines Studiums. Die ständig aufgehaltenen Hände der Professoren, Doktoras und älteren Adepten für alle noch so kleinen Dienste. Keine Lehrstunde, kein Unterricht, keine Arbeit ohne dafür extra bezahlen zu müssen, sowohl für die Unterweisung als auch benötigte Materialien. Die Unterstützung die sich manche meiner Kommilitonen mit klingender Münze kauften, während ich mit dem auskommen musste, was Vater bereit war zu bezahlen – und das war nur das Nötigste! Die manchmal nur ärgerlichen, gelegentlich aber auch erniedrigenden Dienste die ich den Altadepten für zusätzliche Unterweisungen leisten musste wenn ich nicht zahlen konnte oder auch die Liebesdienste, zu der mich die ein oder andere Doktora als Gegenleistung heranzog. Nicht, dass ich auf den älteren Gäulen nicht auch das Reiten gelernt hätte… aber mit dem freien Willen in Rahjas Sinne hatte das nicht immer etwas zu tun gehabt…

Und jetzt? Dere hatte sich weitergedreht und nun würde ich in eine solche Verlegenheit natürlich nicht mehr kommen. Im Gegenteil! Ich hätte jetzt direkt zum Dekan gehen, die obligatorischen 100 Dublonen auf den Tisch legen und mich fortan Professor mit Lehrberechtigung nennen können um die bedauernswerten Studiosi ebenfalls wie Zitronen auszupressen. Aber wäre es das, was Hesinde von mir erwarten würde, auch wenn es hier so Usus war? Ich sage Nein! Manchmal trafen mich seltsame Anwandlungen, und dieser war wieder einer jener Augenblicke. Ich hatte manches Mal die Götter und auch Vater verflucht dafür, dass ausgerechnet mir das Los des armen Studenten zugeteilt worden war. Und niemand, wirklich niemand in diesem Haus schien sich daran zu stören oder etwas an meinem Schicksal damals ändern zu wollen. Aber jetzt konnte ich es mir leisten in Hesindes Namen vielleicht einem Angehörigen der nächsten Generation an Studenten das Leben zu erleichtern! Ich ging zu einem der Schreibpulte, zog mehrere Bögen Pergament, Feder und Tinte heraus, machte mich daran den spontanen Plan in die Tat umzusetzen und setzte mehrere Aushänge auf, die ich sodann an verschiedenen Stellen der Fakultät aushing. „Pellisario‘s KOSTENLOSES Tutorium – Im Garten hinter dem Kreuzgang, Windstags zur Firunsstunde. Kostenfreie Nachhilfe nach Bedarf in Bosparano, Götterkunde, allgemeiner Arkanologie, Botanik und theoretischer Alchemie.“ Mir war bewusst, dass ich damit durchaus dem ein oder anderen Dozenten auf die Füße treten mochte – aber soweit ich mich erinnerte stand in den Statuten der Akademie lediglich, dass man sich das Recht zum kostenpflichtigen Unterricht erwerben musste. Auf das entgeltfreie Anbieten war dies nicht anzuwenden und daher auch nicht verboten – es tat nur niemand, weil es so ein lukratives Geschäftsmodell war! Ich beschränkte mein Angebot und die Dienste aber zunächst ganz bewusst auf die nichtmagischen Fächer. Da würde ich mich zumindest nicht direkt mit den etablierten Kollegen anlegen, sondern höchstens mit den Altadepten, Alchemisten und Vertretern der nichtmagischen Fakultäten. Und die waren mir, ehrlich gesagt, herzlich egal. Ich war ja gespannt, ob sich zur ersten Stunde tatsächlich jemand einfinden würde, oder ich am Ende doch alleine dasaß. Aber dann hätte ich es wenigstens versucht – und in Hesindes Sinne wäre es allemal, will ich meinen!

Auf dem Rückweg machte ich noch auf dem Markt und bei meinem Lieblingsapothecarius halt um die Zutaten für einige Heiltränke zu erwerben. Das waren ja nun auch alles keine Exotika und einen Teil hatte ich ohnehin in meinem kleinen Labor vorrätig. Die fehlenden Ibisfedern und den Morgentau -ich hätte ihn ja auch selber früh im Garten sammeln können - bekam ich beim Apotheker. Die rote Pfeilblüte und die Alraunen für die arkane Ladung fand ich bei einem Kräuterweib am Markt. Vom reinen Gold sollte ich noch genug im Labor haben, ich wollte ja auch nur ein paar Tränke erstellen und keine Großproduktion starten.  Am Ende kostete mich der Einkauf 15 Silbertaler und ich verräumte die Utensilien noch schnell vor dem Mittagsmahl. An die Arbeit würde ich mich vermutlich erst heute Abend machen, je nachdem was der Tag noch bringen mochte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen den Nachmittag mit Nandurin zu verbringen, aber im Haus meiner Eltern wusste man ja nie so genau, was einen erwarten mochte.

Heute war jedoch ausnahmsweise einmal einer der Tage, an dem die Götter keinen Wert darauf zu legen schienen, mich neuerlich mit irgendetwas zu überraschen. Nach dem Essen, bei dem nur Mutter, Liliana, ich, Nandurin und Ulmjescha anwesend waren, platzte auch niemand mit neuen schlechten Nachrichten herein. Liliana hatte sich mit ein paar Freundinnen auf einen nachmittäglichen Kaffee und Spiele (und ich vermute ausreichend Klatsch und Tratsch…) bei den hiesigen Vertretern der Gerbelsteins – einem Handelshaus mit Stammsitz in Mengbilla – verabredet. Als sie den Raum verließ, warf sie mir noch einen verschwörerischen Blick zu. Da ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausging, dass auch Visaria bei der Gesellschaft anwesend sein würde war ich gespannt, was für Nachrichten meine kleine Schwester als Liebesbotin heute Abend zu mir bringen mochte.

Die Zwölfe gönnten mir also tatsächlich einen freien Nachmittag, den ich mit Nandurin verbringen konnte. Nun waren zwar die Spiele eines zweijährigen keine besondere geistige Herausforderung für mich, aber dennoch genoss ich die Zeit die wir beim Bauen von Häusern und Burgen mit Klötzchen verbrachten, mit einem Stift gemeinsam nur schwer erkennbare Bilder auf Pergament malten und ich immer wieder kleine Geschichten erzählte, wenn wir einfach auf den Diwanen lagen. Insbesondere die Geschichte wie ich Ulmjescha in Festum getroffen und beschlossen hatte sie mit hierher zu nehmen konnte Nandurin anscheinend gar nicht oft genug hören. Und Ulmjescha blieb immer in unserer Nähe und spielte manchmal mit, wenn Nandurin sie aufforderte herzukommen. Gelegentlich hatte ich auch die Muse, den beiden einfach zuzusehen, wenn sie sich wieder im Wasserbecken des Atriums abkühlten und spritzend und lachend durch die Gegend platschten. Lust hätte ich ja schon gehabt, mich daran zu beteiligen – aber wenn das die Diener oder Mutter mitbekommen hätten… ich hatte ja doch einen gewissen Ruf zu wahren! Und ein herumplanschender Schwarzmagier würde nicht in das so sorgsam kultivierte Bild passen…

Es war eine dieser Pausen, in der mir, wieder einmal, ein genialer Gedanke kam. Da ich ja jetzt genug Gold hatte um mir die eine oder andere Extravaganz zu leisten würde ich nicht unbedingt darauf angewiesen sein, Artefakte selbst herzustellen, außer wenn ich es tatsächlich wollte. Das mochte ich genauso in der Akademie oder auf einer der nächsten Reisen im Horasreich oder Kunchom umsetzen lassen. Der Gedanke, mir selbst einige dezente Armschienen aus Schildkrötenpanzer zu machen, die mittels Armatrutz meinem Schutz dienten hatte ich ja schon länger. Nun kam aber noch ein neuer Wunsch dazu. Ich bräuchte dringend einen Ring, der auf den Träger einen Unitatio wirkte! Das mag auf den ersten Blick weder besonders spektakulär noch schwierig wirken, und da gebe ich ja jedem recht der das einwenden würde. Aber wie oft hätte ich dies auf meinen Reisen brauchen können? Da beherrscht man diesen Zauber selbst und bräuchte nur einen kompetenten Partner, der bereit ist sich mit einem zu verbinden – und dann scheitert es entweder an der Unkenntnis des Gegenübers oder auch einfach daran, dass Leute wie Sari oder auch Pamina dieses Zauberkonzept überhaupt nicht kannten! Aber mit einem solchen Ring? Das würde Grenzen sprengen! Nicht nur, dass ich mir bei Bedarf damit im Notfall zusätzliche ansonsten oft vergeudete Kraftquellen wie Pamina würde erschließen können. Wie oft hätte umgekehrt Sari in den letzten Monaten davon profitiert, wenn ich ihr einen Teil meiner Kraft hätte zur Verfügung stellen können, die ja im Übermaß vorhanden ist. Und darüber hinaus würde das völlig neue Möglichkeiten eröffnen, vielleicht mit Nandurins Ausbildung frühzeitig zu beginnen! Außerdem war ich zugegebenermaßen Neugierig, wie sein Potential jetzt in Summe war und ob auch jemand wie er, der ja noch keinerlei Kenntnis der Zauberei hatte, sondern rein intuitiv Effekte wirkte, diese dann mit einem Zufluss externer Kraft würde verstärken können. Das wäre sozusagen, als hätte er sich der ihn besessenden Macht weiter bedient, die ihn nun verlassen zu haben schien. Nur das ich diesmal eine deutlich gefahrlosere Quelle zur Potenzierung seiner Macht darstellen würde. Ich spann diesen Gedanken noch einiges weiter, bis mich zwei tropfnasse quietschende Kinder zurück in die Realität holten, indem sie mich, um mich herumflitzend, mit Wasser bespritzten. Ich lachte erschrocken auf, bevor ich mich bei den beiden Rabauken revanchierte, sie schnappte und wieder in das Wasserbecken zurückbeförderte. Was das Spiel nicht beendete, sondern eher weiter eskalierte bis wir alle drei triefnass waren, aber mir ein wahrhaft phexisches Vergnügen bereitete.

Erst als der Abend nahte und wir uns gemeinsam für das Essen fertig machten, endete dieser vergnügliche Nachmittag. Meine Hauskleider waren in der nachmittäglichen Hitze schnell wieder getrocknet, so dass ich mich nicht umkleiden, sondern lediglich einmal das Haar durchkämmen musste. Nandurin und Ulmjescha, die beide wieder nur dünne, lange Leinenhemdchen getragen hatten, mussten sich natürlich noch umziehen. Ich hatte es mir am Schreibtisch bequem gemacht und angefangen eine Matrixskizze für den vorhin erwähnten Ring zu erstellen, als eine Bewegung meine Aufmerksamkeit erregte. Nandurin, der von Ulmjescha fertig gemacht worden war kam gerade auf mich zu um auf meinen Schoss zu klettern. Ulmjescha selbst war noch nicht fertig mit dem umkleiden, im Gegenteil. Ihr feuchtes Hemdchen hing an einem Haken neben dem Schrank und sie huschte – eigentlich der falsche Ausdruck, denn ich hatte eher den Eindruck sie hätte es nicht besonders eilig – in Richtung von Nandurins Zimmer, wo wohl ihre Kleider lagen, und präsentierte dabei ihre blanke Kehrseite, bevor sie durch die Tür verschwand. Ich starrte ihr natürlich nicht hinterher, sie war ja nur ein Kind! Aber seltsam war das schon, dachte ich bei mir. Oder war das im Bornland einfach normal, dass man sich vor der Familie entblößte und keinerlei Scham empfand? Diese Gedankengänge endeten jedoch abrupt, als Nandurin an meiner Robe zog und von mir hochgenommen werden wollte. Ich brachte noch die Skizze in Sicherheit, nicht das er meinte die Zeichnung mit seinem Gekrakel weiter bereichern zu müssen oder das Tintenfass darüber kippte. Bis Ulmjescha wenig später scheu lächelnd zu uns kam versuchte ich, ihm die Gesten und Worte des Flim Flam Funkels als einfachster aller Kraftmanifestationen zu erläutern – allerdings war der einzige Effekt den ich dabei erzielte, dass er jedesmal wenn das Licht aufleuchtete begeistert quietschte, dann versuchte das Licht zu fangen und mit jedem mal, das er es nicht zu fassen bekam etwas zorniger wurde. Ich lachte und versuchte ihm zu erklären, dass man Licht nicht greifen könne, bis uns Ulmjescha beide an die Hand nahm und Richtung Salon zog, damit wir nicht zu spät kommen würden.

Zum Abendmahl war wieder ein größerer Teil der Familie versammelt, auch ein kleinerer Teil meiner Halbgeschwister durfte heute mit uns Speisen. Der größte Teil der Gespräche drehte sich um die noch offenen Vorbereitungen für unseren baldigen Aufenthalt auf der Plantage. Viele meiner Geschwister würden wohl schon morgen aufbrechen, um dort alles für die Ankunft der Familie herzurichten. Liliana hatte auffallend gute Laune und wirkte ein wenig ungeduldig, bis Mutter und Vater die Tafel aufhoben. Dann kam sie schnurstracks zu mir und zog mich hinter sich her Richtung Dachterrasse. Aus dem Augenwinkel meinte ich Mutter lächeln zu sehen, so als ob sie schon wieder mehr wüsste, als sie eigentlich sollte. Sie hatte aber auch wirklich eine unheimliche Gabe, in diesem Haus, und überhaupt in der Gesellschaft, Dinge mitzubekommen, die anderen wie mir oft verborgen blieben. Ich glaube ja, unter den Frauen der gehobenen Gesellschaft Al’Anfas gab es so etwas wie ein geheimes Netzwerk über das sie alles Mögliche an Nachrichten und Informationen austauschten, die den Männern verborgen blieben.

Als wir auf dem Dach im letzten Schein der verschwindenden Praiosscheibe standen platzte Liliana auch schon mit den Nachrichten heraus. „Ich habe es Visaria heute auf Heimweg erzählt. Nachmittags konnte ich ja nicht, weil die anderen dabei waren, aber den Rückweg haben wir zusammen ihrer Sänfte genommen, da waren wir unter uns…“ Sie holte Luft. „Also pass auf Victor. Sie findet die Idee auch toll und will mit ins liebliche Feld kommen. Da war sie nämlich noch nie. Du wirst aber rechtzeitig bei ihrer Tante anfragen müssen, nicht das es dann heißt, das hätte man zeitig vorbereiten müssen. Und sie selbst kann ja schlecht Fragen, richtig? Das solltest du auf jeden Fall noch machen, bevor wir auf die Plantage gehen. Da würde sie auch gerne mitkommen, aber sie muss mit ihrer Tante am Windstag nächste Woche schon auf einen Ball bei den Kugres und da kann sie nicht absagen.“ Dann legte sie mir die Hand auf den Arm und zog etwa aus ihrem Kleid. „Hier, das soll ich Dir geben, hat Visaria gesagt,“ und lächelte mich dabei wissend an. Ich nahm das kleine, zusammengefaltete Stück seidigen Stoffs mit gerunzelter Stirn und etwas ratlosem Blick entgegen.  „Jungs,“ schnaubte sie, „du musst es auffalten, Dummie.“ Jeden anderen, der mich Dumm nennen würde, hätte ich scharf zurechtgewiesen, aber Liliana konnte ich das wohl erlauben, wenn wir unter uns waren. Und sie hatte ja nicht ganz unrecht. Ich war zwar in Liebesdingen nicht unerfahren und hatte schon das ein oder andere erlebt, aber in Sachen Romantik fehlte mir wohl noch etwas der Erfahrungsschatz. Da waren Orgien definitiv einfacher zu handhaben… „Sie hat Dir auf jeden Fall verziehen, Victor.“ Und wieder… ich war mir nicht bewusst, dass ich mir etwas hätte zuschulden kommen lassen, dass man mir verzeihen müsste. Aber ich widersprach vorsichtshalber lieber nicht und entfaltete das Tuch. Ein betörender Blumenduft entfaltete sich und stieg in die Nachtluft hinauf und in meine Nase. Er erinnerte mich an Lilianas Orchideen-Parfüm, war aber auf subtile Art anders, hatte eine feine, frische zitronige Note darunter. Dann sah ich den roten Abdruck sinnlicher Lippen, der die Mitte des Tuchs zierte. Liliana lächelte mich an. „Das ist der Duft, den wir uns extra haben machen lassen. Gefällt er Dir? Ich musste Visaria extra versprechen ihn nicht zu benutzen, bevor du das hier bekommen hast.“ Ich hob das Tuch ans Gesicht und nahm einen tiefen Atemzug – der Duft passte so wunderbar zu ihr, ich meinte in Rahjas Rosengarten selbst zu stehen. Verträumt sah ich zu Liliana hinunter, die sich auf das Mäuerchen gesetzt hatte, die das Dach begrenzte. „Es ist wundervoll…“ und verstummte dann. In meinem Geist jagten sich Bilder von Visaria und mir, wie ich mein Gesicht in ihr duftendes schwarzes Haar vergraben hatte. Lilianas Gesicht sah ich an, dass sie sehr zufrieden mit sich war.

„Oh, und bevor ich es vergesse… das ist ja noch geheim. Wir mussten uns heute wirklich beherrschen beim Kaffee. Die anderen Mädchen, insbesondere die zwei Töchter der Gerbelsteins, die kleine Florios und sogar die junge Zornbrecht habe sich heute öfter als gewöhnlich nach dir erkundigt. Also eigentlich haben sie vorher noch nie nach dir gefragt und waren immer recht uninteressiert, wenn ich von deinen Reisen erzählt habe. Meinten, da hätte wohl jemand eine blühende Fantasie. Jetzt kann ich gar nicht genug von dir erzählen, wenn wir zusammen sind. Aber ich versuche immer schnell das Thema zu wechseln, weil ich merke das es Visaria überhaupt nicht recht ist…“ Das konnte ich mir vorstellen. Mutter hatte mich ja gewarnt, dass mir in nächster Zeit eine gewisse Aufmerksamkeit der Damenwelt drohen könnte. „Ich verspreche Dir, Lili, keine andere außer Visaria hat Platz in meinem Herz. Und Du natürlich.“ Ich lächelte sie an. „Am liebsten würde ich ja morgen schon mit Euch ins Horasreich fahren.“ Ich nippte an meinem Wein – und verschluckte mich fast, als Lilianas Worte von vorhin durch meinen verliebten, benebelten Geist hindurchdrangen und mein rationales ich erreichten. „Lili… wie war das vorhin nochmal? Nächste, Woche, ein Ball bei den Kugres? Vielleicht ein Maskenball?“ Sie sah mich verwundert an. „Ja, das hatte ich doch gesagt, oder? Deswegen kann Visaria ja nicht mit uns auf die Plantage kommen.“ Ich grinste, als sich im Bruchteil von Augenblicken ein genialer Plan in meinem Geist formte. Ich sah ihr tief in die Augen. „Lili, kannst du ein Geheimnis für Dich behalten?“ „Jaaa, natürlich…“ sie sah mich zweifelnd an. „Du musst es mir versprechen, Schwesterchen!“ „Also gut, ich verspreche es, jetzt spann mich nicht auf die Folter.“ Ein diabolisches Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. „Ich glaube, ich muss nächste Woche am Windstag auf einen Maskenball gehen…“ Liliana quietschte aufgeregt und sprang von dem Mäuerchen. „Ich habe am Windstag diese und nächste Woche abends sowieso in der Akademie zu tun,“ dabei dachte ich an den Aushang meines Tutoriums, „und muss von der Plantage daher einen Tag früher zurück in die Stadt. Rein zufällig kenne ich Lucio Kugres, er ist Dozent an der Juridischen Fakultät unserer Universität, ich hatte ihn sogar in einigen Vorlesungen in Rechtskunde…“ Liliana sah mich gespannt an. „Wenn ich mich an ihn wende und vielleicht ein paar Fäden ziehe, es könnte mich zwar ein oder zwei gefallen kosten, aber das wäre es mir wert, bin ich mir fast sicher, ich kann mir eine Einladung zu diesem Maskenball verschaffen… und dann könnte ich dort Visaria überraschen, wenn du ihr nichts verrätst…“ Lilianas Ansturm, als sie mir um den Hals fiel und sich an mich drückte warf mich auf den Diwan hinter mir und wir kullerten beide lachend zu Boden. „Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du ein furchtbarer Schuft bist, Victor. Aber ein wunderbar furchtbarer Schuft! Jetzt werde ich die ganze Woche platzen, weil ich das Visaria nicht erzählen darf… sie wird sich so freuen!“ Ich grinste, während wir uns wieder aufrichteten. „Hoffentlich hast du recht… ich will es auf jeden Fall versuchen.“ Lachend und scherzend machten wir uns auf zurück in unsere Quartiere. Auf dem Weg wies ich noch eine Dienerin an den verschütteten Wein auf der Dachterrasse aufzuwischen. Zum Glück hatte ich mich bei Lilianas Ansturm nicht selbst bekleckert…

Als ich die Tür zu meinen Zimmern öffnete war es fast genauso wie gestern Abend. Der matte Schein eines Nachtlichts drang aus dem Spalt zum Schlafgemach und ich hörte wieder Nandurin und Ulmjescha kichern, die sofort verstummten als ich die Tür etwas lauter als nötig schloss.  Ein kurzer Blick bestätigte mir, was ich schon vermutet hatte. In Zukunft würde das wohl unsere dauerhafte Schlafkonstellation werden – wie ich das dann regeln würde, wenn ich vielleicht einmal Visaria irgendwann zu Besuch hätte, würde ich mir ernsthaft überlegen müssen. So ging das natürlich nicht… Bei angelehnter Tür machte ich mich an die Arbeit, die Zutaten für den ersten Heiltrank vorzubereiten. Ich würde sie nicht auf einmal erstellen, sondern jede Woche nur einen, um die Möglichkeit zu haben eine gehörige Portion meiner Macht als arkane Verstärkung in die Tränke fließen zu lassen, sonst hätte ich ja auch die Alraunen nicht gebraucht. Ich legte alle nötigen Utensilien, Schneidbrett, Messerchen, die Schale, Mörser und Stößel, die Feile für das Gold und das Tuch zur Abdeckung des Gebräus bereit, dann machte ich mich ans Werk. Die Arbeitsschritte waren mir schon so vertraut, dass es mir zügig und einfach von der Hand ging. Das einzige anstrengende war tatsächlich der Teil, als ich meinen Geist öffnete und einen beträchtlichen Teil meiner Kraft durch die Alraune in die trübe Flüssigkeit fließen ließ. Einmal meinte ich, Ulmjeschas hübsches Gesicht im Türspalt zu sehen, so als würde sie mich beobachten. Aber als ich den Kopf drehte war dort nichts zu sehen, nur ein rascheln, so als würde jemand eilig unter eine Bettdecke schlüpfen vernahmen meine scharfen Sinne. Nun, ich hatte eine Arbeit zu erledigen und stellte die Tinktur mit der gebotenen Sorgfalt fertig, ohne mich weiter ablenken zu lassen.

Als ich ein gutes Stundenglas später, ich hatte wegen des Unitatio-Artefakts das ich mir wünschte noch etwas in der Ringkunde für Anfänger nachgeschlagen, ebenfalls ins Schlafzimmer ging schliefen die beiden Kinder bereits, so wie gestern. Ich zog die leichte Sommerdecke über die beiden, gab beiden einen sanften Kuss auf die Stirn und strich ihnen übers Haar. Bildete ich mir das ein, oder drückte Ulmjescha ihr Köpfchen dabei leicht in meine Hand, wie ein kleines Kätzchen, das sich an die streichelnde Hand schmiegen will? Ich muss mir das wohl eingebildet haben… sie schlief ja schon. Dann legte ich mich ebenfalls zur Ruhe nieder und schlummerte friedlich ein, während ich den Tag Revue passieren ließ und mir schon überlegte, wie ich es am besten anstellen mochte den alten Kugres davon zu überzeugen mich zum Ball seiner Familie einzuladen.

Der Morgen brach, wie immer in der schönsten Stadt Aventuriens, mit strahlendem Sonnenschein an. Ich streckte mich genüsslich und blinzelte zu den beiden Kindern hinüber. Nandurin hatte sich im Schlaf wie ein kleines Äffchen an Ulmjescha geklammert. Ihre langen braunen Haare lagen wie ein seidiger Schleier über ihren sanften Zügen, der Anhänger den ich ihr geschenkt hatte lag auf ihrer Brust und glänzte golden im Morgenlicht. Auf Zehenspitzen stahl ich mich ins Arbeitszimmer. Dort sah ich zunächst nach der Schale mit dem angesetzten Heiltrank auf dem Fenstersims. Alles wie es sein sollte. Dann nahm ich mir die Skizze mit der Artefakt-Matrix des Unitatio-Rings noch einmal vor. Einmal drüber schlafen half doch oft. Mit sorgfältigen Strichen vervollständigte ich die Zeichnung zu einer vollendeten Artefaktthesis mit den Komponenten, die ich abends noch in der Ringkunde nachgeschlagen hatte. Beim geplanten Auslöser machte ich jetzt Abstriche, um das Kadunom zu simplifizieren. Der Ring war ja nicht zum dauerhaften Tragen oder gebrauch gedacht, da würde es wohl reichen, wenn der Träger ihn bei Bedarf einfach überstreifte. Was bedeutete, ich durfte den Ringdurchmesser nicht zu klein wählen. Das würde vielleicht bei Paminas oder Saris zarten Fingern passen, aber wer kann schon ahnen, welche wurstfingrige Kraftquelle einmal des Weges kommen mochte? Bei dem Gedanken musste ich unwillkürlich grinsen.

Als ich damit fertig war ging ich wieder ins Schlafzimmer und weckte die beiden Kinder mit einem Kuss auf die Stirn. Während Nandurin mit seinen kleinen Händchen nach mir patschte, er wollte wohl lieber weiterschlafen, war Ulmjescha direkt wach und strahlte mich an, wie ich so über sie gebeugt war. Ich richtete mich schnell auf, strich mein Hemd glatt und lächelte sie ein wenig verlegen an, aber sie schien mir die Art, wie sie geweckt worden war nicht übel zu nehmen. Dann machten wir uns zu dritt, Nandurin nur unter Protest und Gequengel, für das Frühstück fertig. Beim Essen erinnerte mich Vater noch einmal daran, dass ich ihn heute zur zweiten Stunde zum Handelsabschluss in die Börse neben der Hafenmeisterei begleiten sollte – als hätte ich das vergessen. Mutter hatte nun den übernächsten Tag für unsere Abreise zur Plantage festgelegt. Das passte mir gerade so in den Kram, denn morgen war Windstag und ich würde nur ungern meine Planungen bezüglich der Universität ändern müssen.

Den Vormittag wollte ich dazu nutzen, Zeit mit Nandurin zu verbringen. Mir war aufgefallen, dass er, außer mit Ulmjescha und manchmal seinem drei Jahre älteren Halbbruder Armando niemandem zum Spielen im Haus zu haben schien. Deswegen wollte ich heute Morgen mit ihm in den Palmenpark gehen. Vielleicht fanden sich dort ja noch andere Kinder, mit denen er sich verstehen würde. Üblicherweise war der Park ja eher für die romantischen Stelldichein der betuchteren Familien bekannt, aber um diese frühe Zeit hatten ihn wohl eher die Ammen derselbigen in Beschlag. Dazu ließ ich mir von einer Sklavin einen kleinen Korb mit Früchten, süßem Gebäck und etwas zu trinken für uns herrichten. Natürlich plante ich nicht, so wie es die meisten anderen Angehörigen der guten Familien taten, mir einen der Beschützer unserer Familie mitzunehmen. Mittlerweile fühlte ich mich durchaus selbst imstande für unseren Schutz zu sorgen. Ich bezweifelte, aber, dass dies überhaupt nötig wäre, wenn ich dort in meiner Magierrobe auftauchen würde. Kein noch so dummer Dieb oder Bettler würde es wagen…

Nachdem Ulmjescha Nandurin für das Ausgehen fertig gemacht hatte, fragte ich sie, ob sie sich den Vormittag über freinehmen wollte. Sie sah mich völlig verwirrt und entgeistert an, als hätte ich vorgeschlagen sie solle doch zum Baden in den Hanfla springen. Als ich ihr erläuterte, dass ich es ihr durchaus zugestehen würde, dass sie auch einmal Zeit für sich haben dürfte, vielleicht würde sie ja gerne einmal auf den Markt gehen etwas für sich kaufen, fiel mir noch etwas ein. Als ich sie aus Festum mitgenommen habe, hatte ich ihr ja versprochen, sie für ihre Dienste auch zu bezahlen. Und es soll mich der Zholvar holen, wenn ich dieses Wort brechen würde. Es war mir nur irgendwie bisher einfach entfallen, so sehr hatte ich sie schon als Teil unseres Lebens gesehen. Also zog ich einen Lederbeutel aus meiner Kiste und überschlug es kurz im Kopf, was wohl für ein kleines Mädchen der angemessene Lohn sein mochte. Die Zeit die sie schon auf Nandurin aufpasste war ja nicht einmal so kurz, schon über einen halben Götterlauf. Also zählte ich ihr kurzerhand 9 große, glänzende Dublonen auf den Tisch mit der Erklärung, dass dies ja ihr zustehender Lohn sei. Dabei war sie erst richtig blass, dann puterrot geworden. Das war ziemlich sicher mehr Gold, als sie in ihrem kurzen Leben jemals in der Hand gehabt, geschweige denn besessen hatte. Vermutlich ein wahrer Schatz für sie. Unvermittelt hing sie mir, die Arme um meine Hüfte geschlungen, wieder am Körper. Ich meinte zu spüren das ein Schluchzen ihren Leib schüttelte und Tränchen über ihr Gesicht rinnen zu sehen. Besorgt nahm ich sie in den Arm und drückte sie liebevoll, etwas besorgt, dass ich nun etwas falsch gemacht hätte. Sie kuschelte sich an mich, und als ich mich etwas zu ihr herabbeugte hob sie den Kopf und drückte mir mit einem gehauchten, zitternden „Danke“ einen Kuss auf die Wange. Ich hatte ihre Reaktion wohl völlig falsch verstanden. Kurz hielten wir uns noch aneinander fest, bevor ich mich wieder aus ihrer Umarmung löste. Und nein, sie wollte überhaupt nicht irgendetwas alleine machen, sondern viel lieber mit Nandurin und mir in den Park gehen. Ich gab ihr ein leeres Lederbeutelchen, damit sie ihr Gold bei ihren wenigen Sachen verstauen konnte, dann machten wir uns auf den Weg in den Park.

Ich gebe zu, das herumgetragen werden in einer Sänfte ist schon recht bequem. Auf der anderen Seite fühlte ich mich aber auch, wenn ich diese Art der Beförderung zu oft nutzte, auf seltsame Art rastlos, so als wäre mein Körper unruhig und nicht ausgelastet. Das mochte an den langen, körperlich auch einmal anstrengenden Reisen liegen, dich ich hinter mir hatte. Man musste einfach in Bewegung bleiben, um nicht dem Müßiggang zu verfallen. Es war ja nicht so, dass ich das Geheimnis der schlanken Grandensöhnchen und Töchter nicht kannte. Und ich kann verraten, dass es keine körperliche Betätigung war. Im Gegenteil… diejenigen, die nicht bald nach dem Erwachsenwerden aufgingen wie tobrische Hefeknödel vor lauter Suff und Völlerei im Wohlstand nutzten eher reichlich Rauschkraut und Brechwurz, um die Figur zu halten. Und auf beides hatte ich absolut keine Lust! Also gingen wir heute eher untypisch zu Fuß in Richtung des Palmenparks. Es war ja auch nicht weit und nur durch die guten Viertel. An den Blicken, die uns andere Passanten zuwarfen konnte ich sehen, dass wir drei wohl selbst für Al’Anfaner Verhältnisse einen ungewöhnlichen Anblick boten. Ein junger Schwarzmagier in dunkler Robe, auf dessen Schultern ein lachendes Kleinkind saß und neugierig in die Welt blickte, wir beide ja eher dunkelhäutig. An meiner rechten Hand ging Ulmjescha mit ihrem hellen bornländischen Teint, gekleidet in ihr gekürztes schwarzes Kleidchen mit den goldenen Borten, das sie aussehen ließ wie eine zu junge Adepta, in der anderen Hand den Korb mit unserem Essen tragend. Wir vielen vermutlich viel mehr auf, als jede Sänfte die über die Straße getragen wurde, was mir ein diebisches Vergnügen bereitete, denn wenn man in Al’Anfa auffiel, hieß das schon etwas. Und natürlich wagte keines der Straßenkinder oder einer der Bettler, sich uns auch nur zu nähern. Meine Peitsche hatte ich vorsorglich deutlich zu sehen am Gürtel angehängt.

Im Park angekommen suchten wir den Schatten einer der namensgebenden Palmen, legten unsere Decke aus und machten es uns bequem. Es dauerte ein wenig, bis sich der Park belebte, wir waren wohl noch etwas zu früh für die notorisch vom ständigen Feiern verschlafene Al’Anfaner Gesellschaft. Als sich die Besucher dann aber doch nach und nach einfanden, bot sich mir ein durchaus gewohntes Bild. Fast jeder Besucher außer uns hatte seine grimmig blickenden persönlichen Beschützer dabei, die tunlichst darauf achteten, dass keines der am Rande des Parks herumschleichenden Straßenkinder zu nahekam. Und falls es doch einmal der Fall war, das sie den Abstand als nicht ausreichend betrachteten, klatschte auch schon einmal eine Peitsche oder Neunschwänzige in die Richtung des vorwitzigen Übeltäters. Die meisten der Besucher waren jetzt tatsächlich noch Ammen mit ihren Schutzbefohlenen oder Mütter aus gutem Hause, die sich hier mit anderen Damen zum Tratsch trafen, während ihre Kinder miteinander unter den wachsamen Augen der Beschützer spielten. Mehr als einmal hatte ich den Eindruck, dass die Damen, wenn sie in unsere Richtung blickten, in Getuschel hinter vorgehaltener Hand verfielen. Meine Hoffnung, dass sich vielleicht eines der anderen Kinder dazu bequemte mit Nandurin spielen zu wollen erfüllte sich jedenfalls nicht. Fast war es, als hätten wir so etwas wie einen unsichtbaren Kreis um unseren Platz im Schatten, der nur für uns reserviert schien. Und hatte da nicht eine der Mütter ihr Kind, das vielleicht doch in unsere Richtung geflitzt wäre, am Kragen zurückgehalten? Nandurin bekam von alldem natürlich nichts mit. Ulmjescha spielte mit ihm in der für ihn neuen und abenteuerlichen Umgebung Fangen, Verstecken und Entdecker. Die Kleine war einfach im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert und einfach ein wundervolles Mädchen. So verging der Vormittag zwar in rechter Ruhe, aber leider anders als ich es mir vorgestellt hatte. Es wäre wirklich Zeit das wir nach Bethana kamen und Nandurin mit Miguel wieder einmal einen gleichalten Spielgefährten haben würde.

Nach und nach kamen auch die ersten Söhne und Töchterchen aus den besseren Häusern der Stadt in den Park um zu flanieren – ich kannte keines der Gesichter, die immer wieder, manchmal offen, manchmal verstohlen, neugierig in unsere Richtung blickten. Es war kurz bevor ich beschloss den Park zur Mittagszeit hin langsam verlassen zu wollen, als sich doch eines der kleinen Grüppchen in unsere Richtung bewegte. Ich hätte gedacht, wie die vorherigen auch um auf dem Kiesweg an uns vorbeizuschlendern und war daher überrascht, als sie von dem Weg abbogen und auf uns zu kamen. Es war eine junge Dame, ich schätzte in meinem Alter, vielleicht etwas jünger, von schlanker Gestalt und mit einem leichten kupferton in der Haut. Große, dunkle Augen die ein wenig katzenhaft wirkten zogen unweigerlich den Blick in ihr äußerst hübsches, dezent geschminktes Gesicht. Sie trug ein leichtes, seidenes rotes Sommerkleid, das nur wenig ihrer Kurven der Fantasie überlies. Begleitet wurde sie von einem vielleicht fünf Jahre älteren, rotgesichtigem Burschen, dem man schon aus der Ferne ansah, dass er nicht aus dem Süden kam. Zwar hatte er sich in eine eng sitzende Lederhose gequetscht und ein weites Pluderhemd darüber gezogen, aber alles an ihm schrie „Nordländer“. Die dritte im Bunde war eine dunkelhäutige Schönheit, die sich aber immer dezent hinter den beiden hielt, vermutlich eine Dienerin oder Sklavin, die auf die Befehle der beiden wartete. Die zwei zugehörigen Wächter machte ich erst auf den zweiten Blick in einem angemessenen Abstand von ein Dutzend Schritt aus, weil sie mich nun misstrauisch beäugten.

Die junge Dame kam mit einem aufgesetzten, etwa übertrieben wirkenden Lächeln auf uns zu und blieb direkt vor mir stehen. Dabei stellte sie eines ihrer schlanken Beine so zur Seite aus, dass es sich lockend aus dem Seitenschlitz ihres Kleides herausstahl. Und da ich noch auf meiner Decke am Boden saß hatte ich von schräg unten nun einen recht guten Blick unter ihr Kleid bis hin zu ihrem ansehnlichen Gesäß, bemühte mich allerdings nicht zu offensichtlich in diese Richtung zu blicken. Um es nicht zu peinlich – für mich – zu machen, erhob ich mich und strich meine Robe glatt. „Entschuldigt, Herr, ihr seid nicht zufällig Victor d‘ Pellisario?“ Dabei hob sie die Hand, die schüchterne spielend, zierlich vor ihr Gesicht. Ihrem Begleiter schien die ganze Sache nicht sonderlich recht zu sein, da er mir einen bösen Blick zu warf. Mit einer Verbeugung erwiderte ich „Ihr habt recht, Domna, der bin ich. Verzeiht wenn mir euer werter Name nicht geläufig ist, wir hatten schon einmal das Vergnügen?“ Mit einem gezierten lachen, das aber trotzdem wunderschön klang, so als würde sie es wie eine geübte Kämpferin die Klinge nicht zum ersten Mal in die Schlacht führen, erwiderte sie „Leider nein. Aber was nicht war, kann ja noch werden,“ und dabei warf sie mir einen glühenden Blick zu, bei dem ich mich zusammenreisen musste, dass sich kein ziehen in meinen Lenden breit machte und beugte sich ein wenig vor, so dass ich auch noch einen recht guten Ausblick in ihr straffes Dekolleté erhielt. „Ich dachte mir lediglich, ich könnte mir erlauben einmal zu Fragen. Es gibt vermutlich nicht viele Männer Eurer Zunft in Eurem Alter, die sich auch noch mit ihrem Kind  - der Kleine ist ja soooo süß, Euch wie aus dem Gesicht geschnitten – in der Öffentlichkeit zeigen.“ Ihre Stimme hatte dabei einen schmeichelnden Unterton. „Florinna Ugonez-Paligan,“ stellte sie sich vor und reichte mir dabei geziert die Hand, die ich geziemlich zu einem gehauchten Handkuss entgegennahm und nur einen wimpernschlag länger als nötig in der meinen hielt. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite,“ erwiderte ich. „Eure heroischen Taten in der Grünen Hölle machen ja schon seit Monden die Runde,“ hauchte sie nun, „dabei seht ihr gar nicht aus wie einer der typischen Questadores. Vielleicht habt ihr ja einmal Gelegenheit mir persönlich davon bei einer Tasse Kaffee zu erzählen?“ Von ihrem Begleiter war ein aufgebrachtes Schnauben zu hören, seine Gesichtsfarbe war mittlerweile von rot-verschwitzt zu puterrot-grantig gewechselt und es war offensichtlich, dass er mit der Situation überhaupt nicht einverstanden war. Was mich wenig überraschte. Vermutlich hätte ihn die Schönheit geradewegs an Ort und Stelle stehen lassen, wenn sich ihr die Gelegenheit geboten hätte mit mir von dannen zu ziehen. Aber ich erinnerte mich an Mutters Worte über die Damenwelt der Stadt und auch an Visaria. Ich wollte gerade zu einer freundlichen, unverbindlichen Antwort ansetzen, da schob sich Ulmjescha mit Nandurin an der Hand in mein Blickfeld. Fast wäre ich erschrocken. Ein kaltes lächeln lag auf ihrem süßen Gesicht, so als wäre alles in bester Ordnung. Aber wenn Blicke töten könnten wäre die Dame Ugonez-Palligan vermutlich auf der Stelle tot umgefallen. Meiner kleinen Ulmjescha stand der blanke Hass in den Augen, ein zorniges Funkeln, das einen Hausbrand hätte entfachen können. Der Begleiter der Dame war wohl nicht der Einzige, der mit der Situation alles andere als einverstanden war. Während wir gesprochen hatten, musste Ulmjescha die Decke zusammengerollt und unsere Sachen eingepackt haben, sie hatte Nandurin an der Hand, der verwundert zwischen uns hin und her schaute. Sie zog am Schoß meiner Robe und angelte dabei nach meiner freien Hand. „Edler Herr,“ und ihre Stimme hatte dabei einen frostigen klang, der aber eher in Richtung der fremden Dame gerichtet schien, „ich befürchte wir müssen leider gehen und uns sputen, damit ihr nicht zu spät zum Essen mit Eurer Familie nach Hause zurückkehrt.“ Ich muss zugegeben, sie lernte wirklich schnell, meine kleine Ulmjescha. So geziert sprach sie normal nie, genau in dem angemessenen Ton, der einer treuen und besorgten Dienerin ihrem Herrn gegenüber angebracht wäre, ohne unhöflich zu wirken. Aber für jemand wie mich, der sie kannte, sprach ihr Gesicht Bände, auch wenn sie sich bemühte eine neutrale, unterwürfige Mine zur Schau zu stellen. Ich war froh, dass sie keinen Dolch hatte, denn den hätte sie der Dame Ugonez-Palligan vermutlich gerade mit Freuden in den Leib gestoßen. So begnügte sie sich aber damit, sowohl Nandurin als auch mich mit sanftem, aber bestimmten Druck aus der Reichweite der Fremden Dame zu ziehen. Mit einem höflichen „Hat mich sehr gefreut, edle Dame. Vielleicht können wir dieses Gespräch ja tatsächlich zu gegebener Zeit bei einem Getränk fortführen“, was mir ebenfalls einen bösen Blick von Ulmjescha einbrachte, verabschiedete ich mich so würdig wie es unter diesen Umständen ging. Dem schwitzigen Begleiter schien dies jedenfalls schon besser zu gefallen, als wir den Park verließen.

Ich nahm Nandurin wieder auf die Schultern, Ulmjescha hielt wieder meine Hand, ich hatte den Eindruck fester als zuvor, so als würde sie sich an mir festklammern wollen. Die ersten paar hundert Schritt legten wir schweigend zurück, die Stimmung hatte sich verändert. Nur Nandurin plapperte weiter fröhlich vor sich hin und deutete nach links und rechts um uns Sachen zu zeigen, die er entdeckt hatte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, drehte mich beim Gehen in Ulmjeschas Richtung und sprach sie direkt an. „Du bist zornig Ulmjescha, was ist los?“ Sie schien zu zögern, schlucke, bis sie schließlich doch Antwortete. „Diese Frau mit dem Nuttenkleid“, ich musste dabei ein Lachen unterdrücken als sie das so blank heraus sagte, „die ist nicht gut genug für dich. Sie ist nicht ehrlich. Und böse.“ Soso… ich musste mich zusammenreisen um meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. „Wirklich, ich meine es ernst“, dabei stapfte sie mir ihrem Füßchen auf den staubigen Boden, „die hat sich an dich herangemacht wie eine billige Hafenschlampe! Das geht doch nicht!“ Und ihrer Stimme war die echte Empörung, und vermutlich auch ein wenig Eifersucht, deutlich anzuhören. Ich ließ ihre Hand los, was sie nur widerwillig geschehen ließ, fuhr ihr dann sanft durchs Haar und nahm sie schließlich in den freien Arm und zog sie an mich, indem ich mich ein wenig zu ihr hinunterbeugte. „Danke, dass du so gut auf mich aufpasst, Ulmjescha.“ Als ich das sagte drückte sie sich noch enger an mich und über ihr Gesicht leuchtete wieder dieses strahlende Lächeln, das ich so an ihr liebte. Falls sie mit mir Gram gewesen sein sollte, schien sie mir nun schon wieder vergeben zu haben. So gingen wir eng beisammen, Ulmjescha hatte jetzt ihren Arm um meine Hüfte gelegt, das letzte Stück des Weges zurück zum Anwesen meiner Familie. Den Blicken die uns einige Passanten zuwarfen war anzusehen, dass sie nicht so recht zu wissen schienen was wir denn wären. Um meine Tochter zu sein wäre Ulmjescha wohl schon zu alt, beziehungsweise ich zu jung. Außerdem sahen wir uns ja überhaupt nicht ähnlich. Bliebe noch, dass sich der perverse Schwarzmagier eine zehnjährige Geliebte hielt… ach, mochten sie sich denken was sie wollten! Es war mir ja eigentlich schon immer egal gewesen, was der Pöbel meinte sich einbilden zu müssen!

Das Mittagessen daheim verlief ruhig im kleinen Kreis, wie meistens. Ich fragte Liliana, ob sie die Dame Florinna Ugonez-Palligan kennen würde, und Mutter verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Die Kurzfassung war, dass sie wohl eine der besseren noch verfügbaren Partien aus einem weiteren Zweig der Familie Palligan war, aber auch ein recht lebensoffenes Flittchen, das keine Gelegenheit ausließ zu Feiern oder sich mit immer wechselnder Gesellschaft umzutun. Was wohl auch bedeuten würde, dass sie mit Sicherheit bei einem mir bekannten, demnächst stattfindenden Maskenball zugegen sein dürfte. Aber da hatte ich ja anderes, also jemand anderes, im Sinne. Dann zog ich mich eilig um in das schlichte Reisegewand um die Rolle als unverfänglicher Leibmagier meines Vaters einzunehmen und machte mich auf den Weg zum Kontor. Kaum dort angekommen gingen wir auch schon mit einem Sekretarius weiter zur Börse am Hafen, also gar nicht so weit weg vom Kontor.

Die Börse war ein prachtvoller, vierstöckiger Bau im früh-helaischen Stil und ich nicht zum ersten Mal mit Vater dort. Dies war vermutlich der Ort neben dem Haus des Phex, an dem die meisten größeren Geschäfte getätigt wurden – zumindest die offiziellen. Auf dem Weg klärte Vater mich auf, dass er mit einem Kapitän verabredet war um eine ganze Schiffsladung über Unau und Kannemünde verschifftes Salz und Echsenleder aus den Sümpfen um Selem zu erwerben, die er dann, wenn wir schon demnächst ins Horasiat fahren würden, mit uns dorthin verschiffen und weiterverkaufen wollte. Der Kapitän, der wohl gleichzeitig Schiffsbesitzer und Händler in einer Person war, nannte sich Uvion Woltier und hatte ebenfalls einen Schreiber sowie eine hagere Frau mittleren Alters in Matrosenkleidung dabei, die er als seine Rudergängerin vorstellte, bevor das Gehandel und Gefeilsche losging. Ich machte derweil, dezent im Hintergrund stehend, meine Arbeit, ohne mich offensiv oder phexwidrig in die Unterhandlung einzumischen. Ein schneller Odem Arcanum – ich war überrascht, als die Rudergängerin eine halbwegs kräftig ausgeprägte Aura aufwies, vermutlich satuarischen Ursprungs, aber passiv. Sie wirkte keine aktive Magie. Nur zur Sicherheit machte ich einen Schritt nach vorne und legte Vater die Hand auf die Schulter, um ihn mit einem Arcano Psychostabilis zu versehen, rein prophylaktisch natürlich. Ein Sensibar wahr und klar auf den Kapitän, nur um sicher zu gehen hinterher – aber neben dem üblichen und verständlichen Drang, das Beste aus diesem Geschäft herausschlagen zu wollen waren da keine Gefühle, die mich darauf schließen lassen würden, dass er etwas unlauteres plante. Das beruhigte mich etwas. Den Rest der Verhandlung hielt ich mein Augenmerk auf die Rudergängerin gerichtet, ob sie nicht doch etwas Seltsames versuchen würde, aber dies schien nicht der Fall zu sein. Vielleicht hatte der Kapitän sie, so wie Vater mich, einfach zur Sicherheit mitgebracht. Als der Handel besiegelt wurde, die Sekretäre hatten fleißig mitgeschrieben, schienen sowohl Vater als auch der Kapitän recht zufrieden mit dem Ausgang zu sein und stießen darauf mit einem Krug Wein an. Was bedeutete, die Schauerleute würden jetzt bis in den Abend wohl eine Sonderschicht einlegen, um die Waren noch heute in Vaters Kontor zu bringen. Zu sechst gingen wir nun in den Kontor zurück, denn das Gold hatte Vater natürlich nicht mitgeschleppt und hätte es auch nie herausgegeben, bevor er nicht persönlich die Waren überprüft hätte. Ich wurde in jedem Fall im Anschluss daran am späteren Nachmittag entlassen, da er meiner Dienste wohl nicht mehr bedurfte.

Dies ließ mir genug Zeit mich auf dem Heimweg noch einer weiteren offen Angelegenheit zu widmen. Am Fuße des Universitätsviertels suchte ich eine, mir bisher nur dem Namen nach bekannte, Schneiderin, Gilia Gurvanez, auf. Bei ihr gaben die Dozenten und Professorii der Akademie, aber auch mancher Geweihte, wohl gern seine Roben und Sutanen in Auftrag, die dann auch gern einmal etwas ausgefallener sein durften – und bisher definitiv außerhalb meiner Preisklasse lagen. Nicht einmal zu meinem Abschluss hatte Vater mir eine Robe von dieser oder einer anderen Schneiderin gegönnt, der Geizhals, sondern diese von einer unserer Hausdienerinnen nähen lassen. Aber nun konnte ich ja tun und lassen, was ich wollte, Phex sei Dank! Mit solchen Gedanken betrat ich den hell ausgeleuchteten Laden in dem es nach neuem Stoff und Waschmittel roch. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen saßen geschäftig an Nähtischen in der Nähe geöffneter Fenster, durch die das Licht hereinfiel um ihnen die Arbeit zu ermöglichen. Drei weitere bedienstete, augenscheinlich Verkäufer, kümmerten sich um Kundschaft die außer mir anwesend war. Ich nickte einem Kollega von der Universität, ich glaube er war zwei oder drei Jahrgänge über mir gewesen, freundlich zu. Hinter dem großzügigen Verkaufstresen, der sich trefflich eignete um darauf lange Stoffbahnen zu entrollen, saß auf einem hohen Stuhl eine Frau von vielleicht 50 Götterläufen und überblickte den Laden mit wachsamen Augen. Das musste die Besitzerin sein, denn als ich Eintrat begrüßte sie mich mit einem geschäftstüchtigen „Den Zwölfen zum Gruße, wohlgelehrter Herr, wie können wir Euch zu Diensten sein?“ und erhob sich von ihrem Stuhl. Ich blickte mich um und trat dann an den Tresen heran. „Hesinde mit Euch, hochgeschätzte Frau Gurvanez“, ich riet einfach ins Blaue hinein. „Ich benötige eine neue repräsentative Robe meiner Zunft. Von den werten Kollegen aus der Universität hört man ja nur das Beste über Eure Stücke, also dachte ich mir, ich überzeuge mich einmal selbst von deren Qualität.“ Dabei lächelte ich sie gewinnend an. Die Schmeichelei gefiel ihr augenscheinlich, den nach einer kurzen Plauderei über geeignete Stoffe und Garne fand ich mich schon auf einem flachen Podest wieder und eine Dienerin nahm unter den strengen Augen der Meisterin Maß an mir, nachdem wir geklärt hatten was ich mir vorstellte. Natürlich würde es eine schwarze Robe sein müssen, auf Grund der herrschenden Witterung hier und weil ich es mir nun leisten konnte aus leichter Seide. Das würde sie zwar für Reisen ungeeignet machen, wollte ich sie nicht schnell verschleißen, aber ich plante ohnehin nur, sie bei besonderen Anlässen anzulegen und nicht zu Händeln mit Schurken zu tragen. Dazu wollte ich ein ebenfalls seidiges, silberne Innenfutter und auf der Außenseite mit goldenen Fäden eingestickt diverse arkane und astronomische Symboliken appliziert. Der schwarze Stoffgürtel würde dann von einer Schließe in Form eines doppelt eingerahmten, aufrechtstehenden Pentagramms gefasst. Die Robe sollte bodenlang sein, ich war ja keine der Kollega die ihre Beine zeigen mussten um Anerkennung zu erfahren, vorne offen und geschlitzt um sie leichter anziehen zu können – ich hasste Roben, die man über den Kopf anziehen musste – und mit einem halbhohen Stehkragen oben abschließen. Die schnell hingeworfene Skizze, die mir die Schneiderin nach meinen Vorstellungen erstellte überzeugte mich direkt – diese Frau wusste, was sie tat, eindeutig. Sie verstand ihr Handwerk. Und so ausgefallen schien mein Wunsch nicht zu sein, denn sie meinte, ich könnte das gute Stück schon in zwei bis drei Tagen nach einer letzten Anprobe für individuelle letzte Änderungen abholen. Den Preis hätte ich jedoch im Voraus zu entrichten, und der war gar nicht einmal so günstig. Aber was hatte ich erwartet, ich wollte ja etwas Besseres als die immer gleiche, schlichte Robe. 8 Dublonen musste ich ihr direkt auf den Tresen legen, aber das soll es mir wert sein.

Zufrieden machte ich mich auf den Weg nach Hause und kam gerade noch rechtzeitig, um mich zum Abendessen dazu zu gesellen, auch wenn der Rest der Familie schon begonnen hatte. Vater war nicht zum Essen da, er hatte sich entschuldigen lassen das er die heute erworbenen Waren noch bis zur fertigen Einlagerung kontrollieren wollte, bevor es ans zahlen ging. Er würde mit dem Kapitän in einer der Gaststätten am Hafen speisen. Mutter mochte das zwar nicht besonders, aber sie kannte natürlich die Erfordernisse, die das Geschäft manchmal mit sich brachte. Mit mir hatte sie da etwas weniger Nachsicht, das ich zu spät kam, was sie mich mit einem versteckten Kommentar auch wissen ließ. Als ich ihr erzählte, warum ich mich verspätet hatte, milderte das ihr Urteil allerdings wieder. Es schien ihr sehr recht zu sein, wenn ich mich, in ihren Augen endlich einmal, um eine nach ihrer Definition angemessenere Garderobe bemühte. Als ich Mutter unterrichtete, dass ich morgen wohl nicht am gemeinsamen Abendessen teilnehmen könnte, da ich noch dringliche Arbeiten in der Universität zu erledigen hätte und dies wohl auch in der folgenden Woche dazu führen würde, dass ich einen Tag früher von der Plantage aufbrechen musste nahm sie es ohne eine große Regung hin. „Immer noch besser, als wenn du wieder mir nichts, dir nichts für ein halbes Jahr einfach Verschwindest,“ war ihr einziger Kommentar. Das einzig interessante an der abendlichen Tischgesellschaft war, dass Liliana und Ulmjescha anscheinend ein gemeinsames Hassobjekt gefunden hatten. Liliana erzählte fortwährend nicht ganz so nette Geschichten über die Dame Florinna Ugonez-Palligan, die Ulmjescha dann kommentierte und die beiden dann in nicht besonders feines Geläster über diese verfielen. Ich seufzte, als ich Mutters Blick bemerkte. Sie schien es zu missbilligen, dass Ulmjescha auch mit Liliana vertrauter wurde, und sei es nur über eine gemeinsame „Feindin“. Auch mich störte es etwas, denn ich mochte ja meine liebe kleine, einfache Ulmjescha. Nichts wäre trauriger, als wenn meine Schwester sie zu einer intrigierenden Mini-Grandessa machen würde, das würde sicher nicht gut ausgehen. Darauf sollte ich ein Auge haben – nicht das da etwas erwachsen mochte, was uns allen Ungemach einbringen würde. Auf der anderen Seite war ich recht zuversichtlich, dass es sich dabei um eine Eintagsfliege handelte, wenn ihnen dieses Gesprächsthema erst einmal erschöpfend ausgegangen war. So viel Gesprächsstoff dürften die beiden dann auch wieder nicht haben, dazu kamen sie aus zu unterschiedlichen Welten, oder nicht?

Der Rest des Abends verlief in ruhigen Bahnen. Wir setzten uns alle zusammen in den Salon und tranken noch ein Schlückchen Wein zusammen, bis Vater ziemlich spät heimkam. Die Zeit vertrieb ich uns, indem ich noch einmal von meinem Abenteuer auf den Zyklopeninseln erzählte. Und Vorschlug, wenn wir doch ins liebliche Feld reisten, könnten wir ja ein paar Tage auf den Inseln verbringen, die ein beliebtes Ausflugsziel für die Horasier waren. Vielleicht könnte ich ihnen dabei sogar den verwegenen Korsaren Deveca vorstellen, falls er zufällig sein Schiff in den gleichen Hafen lenkte, was Liliana, die eine recht romantisierte Vorstellung von der Freibeuterei hatte, ein begeistertes quietschen und Mutter ein abfälliges Schnauben entlockte. Ulmjescha hatte es sich mit Nandurin zu meinen Füßen auf ein paar Kissen bequem gemacht um der Geschichte zu lauschen und ihr Köpfchen an mein Bein gelehnt, während Nandurin in ihrem Schoss eingeschlafen war. Als wir uns schließlich in unsere Zimmer begaben trug ich den schlafenden Nandurin vorsichtig ins Bett. Diesmal gleich, ohne mir groß weitere Gedanken darüber zu machen, in das meine. Ulmjescha zog ihr Nachthemdchen über und huschte hinter mir, ich hatte mich noch zu ein bisschen Bettlektüre aus den Alchemistischen Exkursen in den Sessel gesetzt, ebenfalls in mein Zimmer, ohne dass ich dazu Einwände erhoben hätte. Bei Gelegenheit würde ich anfangen müssen ihr das Lesen beizubringen. Das würde ich von ihr erwarten müssen, falls es einmal nicht möglich war ihr meine Anweisungen mündlich mitzuteilen. Es wäre dann schon peinlich, wenn ich ihr einen schriftlichen Auftrag erteilen würde, den sie nicht entziffern könnte. Aber ich hatte ja auch Pamina in die Kunst des Lesens und Schreibens eingewiesen, dann sollte mir das mit Ulmjescha auch gelingen, oder? Mit diesen Gedanken legte ich mich zu den Beiden Kindern ins Bett als mir schließlich ebenfalls die Augen schwer wurden und ich mit angenehmen Gedanken an Visaria in Borons Arme glitt.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte, aber von der Morgendämmerung waren wir noch ein gutes Stück entfernt. Ich meine noch, mich an einen recht… schönen… Traum zu erinnern in dem es im Wesentlichen um Visaria ging, die ein rotes Seidenkleid trug, dass auffällig dem der Dame Ugonez-Palligan ähnelte. In der Seelenheilkunde nennt man das glaube ich Projektion. Jedenfalls wurde ich jählings aus dem Traum gerissen, als mich Hesindes Eingebung mit der Wucht einer Orkkeule traf! Es heißt ja, die Zwölfe gebens den ihren im Schlafe. Es schien etwas Wahres dran zu sein, also noch ein Grund, es sich mit den Göttern nicht zu verderben. Wie dem auch sei, jedenfalls hatte mich die Erkenntnis ereilt, wie ich mir eine Einladung zum Maskenball der Kugres würde erheischen können. Dazu würde ich nur noch einmal mit Vater sprechen müssen, ihn fast schon manipulieren. Aber das würde ich versuchen wollen. Der Gedanke, dazu später mehr, war dermaßen Genial, dass ich vor Begeisterung senkrecht im Bett hochfuhr. Was mir ein unwilliges Grunzen von Nandurin einbrachte, der sich auf die andere Seite drehte. Als ich zu ihm hinüber blickte sah ich im fahlen Licht der Ölfunzel Ulmjeschas aufgerissene Augen, die wohl ob der heftigen Bewegung erwacht war und mich erschrocken ansah. Ich ließ mich langsam wieder auf mein Kissen sinken und lächelte beruhigend zu ihr hinüber – keine Ahnung, ob sie es im trüben Licht erkennen konnte – und flüsterte leise um Nandurin nicht doch noch zu wecken: „Alles gut, Ulmjescha, ich hatte nur einen wilden Gedanken. Schlaf ruhig weiter…“ Dabei streckte ich meinen Arm um Nandurin herum zu ihr aus, um ihr die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Von ihrer Seite des Bettes aus hörte ich ein erleichtertes seufzen. Dann nahm sie, zu meiner völligen Überraschung, bevor ich ihr Haar erreichen konnte, meine Hand mit ihren beiden kleinen Händen, zog sie an sich und legte ihren Kopf in meine Handfläche, kuschelte sich darauf wie auf ein weiteres Kissen, und schloss mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht die Augen. Ich gebe zu, es gab bequemere Liegepositionen für mich… mit ausgestrecktem Arm, ihr warmes Gesicht in der Hand, Nandurin, der nun quer zwischen uns lag und mir die Beine gegen den Bauch stieß und ich ausgestreckt auf dem Rücken, unfähig mich großartig zu drehen oder zu bewegen. Aber ich wagte es nicht, meine Hand von ihr wegzuziehen…

Der Nachteil an diesen Geistesblitzen in der Nacht war darüber hinaus, dass mein Kopf nun auf Hochtouren an einem Plan arbeitete und es mir unmöglich war zurück in den Schlaf zu finden. Ich hätte mich ja gerne herumgewälzt, aber das ging aus naheliegenden Gründen ebenfalls nicht. So formte sich in den nächsten Stunden ein ausgefeilter Plan, der Phex und Hesinde zur Ehre gereichte, auf Kosten eines erholsamen Schlafs. Erst kurz vor der Dämmerung glitt ich in einen unruhigen, erwartungsfrohen Halbschlaf, aus dem mich wenig später schon wieder Nandurin weckte, der heute am frühen Morgen eine ungewohnte Aktivität an den Tag zu legen meinte und mich, vor mir im Bett sitzend, an den Haaren zog. „Aufwachn, Dada! Spielen!“ und dann über mich hinweg aus dem Bett krabbelte. Mit der freien Hand, auf der anderen lag immer noch Ulmjescha, die sich an meinem Arm festhielt wie eine Ertrinkende, fing ich ihn ein, bevor er aus dem Bett purzeln konnte.

Beim Frühstück war ich daher auch noch rechtschaffen Müde und benötigte heute gleich mehrere Tassen Kaffee, bevor ich mich halbwegs tagestauglich fühlte. Viel Zeit würde mir ohnehin nicht bleiben, den Plan in die Tat umzusetzen. Zunächst würde ich Vater benötigen, weswegen ich ihn noch zu einem Gespräch unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer bat, ehe er ins Kontor hinunter ging. Als wir die Tür schlossen sah er mich mit echtem Interesse und Neugier an. Normal war es ja umgekehrt, dass er mich zum Gespräch bat. Da ich wusste, dass er keine Zeit zu verschenken hatte, denn Zeit war ja Geld, begann ich auch ohne weitere Umschweife. „Vater, es geht um die neu zu gründende Gesellschaft mit Unterstützung der Ulfharts. Nein, ich will meine Zustimmung zu dem Projekt natürlich nicht zurücknehmen. Es geht mir vielmehr um die vertragliche Ausgestaltung…“ Er nickte mir zu fortzufahren, ich hatte wohl seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Das Vertragswerk dürfte ja etwas umfangreicher ausfallen. Du weißt, ich bin nicht ganz unbewandert was die juristischen Angelegenheiten angeht. Aber das scheint mir doch recht komplex zu werden. Die Kapitalabsicherung, stille Teilhaber, die Beachtung der Ius Meridiana, ganz zu schweigen der internationalen Rechtsverhältnisse mit Chorop und dem Horasreich, deren Rechtsordnung ebenso zu beachten sind…“ Vater wiegte nachdenklich den Kopf. Natürlich, nicht das er nicht ebenso schon über solche Aspekte nachgedacht hätte. „Ich will damit nur sagen, wir sollten den Vertrag, wenn der Sekretarius ihn aufgesetzt hat, nicht nur der Phexkirche zur Bestätigung vorlegen, sondern vorher noch einmal von einem richtigen Juristen prüfen lassen. Ich würde mich dann einfach wohler dabei fühlen…“ Vater nickte, wie zur Bestätigung meiner Worte und deutete an, ich solle Weitersprechen. „Würdest Du es mir zugestehen, sozusagen als einem der Anteilseigner, dass ich einen Rechtsgelehrten dafür auswählen dürfte? Ich kenne da jemand mit großer Erfahrung an der Universität, den ich für entsprechend kompetent halte. So etwas sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, will ich meinen.“ Vater hatte die Stirn in Falten gelegt, ich konnte jedoch nicht erraten warum. „Victor, das ist das erste Mal, dass du dich in eine geschäftliche Angelegenheit einmischst. Wird das in Zukunft öfter vorkommen?“ Ich schluckte. Das war nicht die Bestätigung, die ich erhofft hatte. „Nein Vater, ich meinte nur, weil es ja um so viel Geld geht…“ Vater schnitt mir das Wort ab. „Ich sage ja nicht, dass du damit nicht recht hast. Es ist nur ungewohnt, dass solche Dinge aus deinem Mund kommen. Bisher waren dir solche Aspekte unseres Gewerbes doch herzlich egal. Aber ja. Gerade solch einen Vertrag müssen wir natürlich entsprechend absichern. Ich will dein ungewohntes Engagement honorieren, vielleicht wird aus dir ja doch noch ein brauchbarer Geschäftsmann… ich lasse dir das Vorschlagsrecht für den Juristen, den wir beauftragen sollen. Und wenn er mir nicht gänzlich ungeeignet erscheint, soll es so sein. Nun, an wen dachtest Du? Du hast ja schon gesagt, du wüsstest jemanden…“ Ich schluckte den Frosch hinunter, der sich in meinem Hals festgesetzt hatte. Das hätte schlechter laufen können. „Ich möchte Lucio Kugres vorschlagen. Er ist Dozent an der juridischen Fakultät und hat sowohl im Vertragswesen als auch in staatsrechtlichen Dingen soweit ich weiß eine sehr gute Reputation.“ Vater wog wieder überlegend den Kopf hin und her, bis er schließlich erwiderte. „Nun ja, mir ist zwar schleierhaft, wie du ausgerechnet auf diesen kommst… und seine Expertise dürfte auch nicht unbedingt günstig sein… aber fachlich müsste er durchaus geeignet sein. Ich hätte jetzt an jemanden anderen gedacht, aber sei es drum. Ich habe dir meine Zusage gegeben, und deine Wahl hätte weiß Phex weit schlechter ausfallen können. Also gut, ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen.“ Ich räusperte mich noch einmal. „Wäre es zu viel verlangt, wenn Du mir diese Aufgabe überlässt? Ich muss heute ohnehin in die Universität, und könnte meinen Besuch dort direkt mit der Anfrage verbinden. Das wäre sicherlich effizienter und zeitsparender, als wenn du dies selbst tust oder einen Boten mit einer schriftlichen Anfrage schickst.“ Vater sah mich misstrauisch an. Der alte Fuchs war nicht so leicht hinters Licht zu führen oder zu ködern. Auf Zeit- und Geldersparnis sprang er sonst immer sofort an. „Victor, ich glaube du verheimlichst mir noch etwas. Normalerweise schreist du nicht gerade nach solchen Botendiensten. Aber als meinem Sohn will ich dir zugutehalten, dass es sicher nichts ist was unseren Interessen schaden würde. Also gut, in Phex Namen, dann wirst du den Kontakt mit Herrn Kugres suchen. Nun muss ich aber wirklich los. Und es wird sicher noch einige Tage dauern, bis wir den Kontrakt soweit vorbereitet haben, dass er geprüft werden kann.“ Es fiel mir schwer, meine Erleichterung nicht zu offensichtlich werden zu lassen. „Sehr wohl Vater. Ich werde es noch heute erledigen. Danke für dein Vertrauen.“ Der erste Teil meines Plans war damit schon einmal in die Tat umgesetzt.

Den Rest des Tages, bevor ich später am Nachmittag die Universität aufsuchte, verbrachte ich damit persönlich per Sänfte die Briefe an die Zwölf Kirchen zu verteilen, mit denen ich meine Hilfe beim Kampf gegen das Namenlose Gezücht anbot und auf die Umtriebe von Perizel aufmerksam machte. Dabei liefen die Besuche im Wesentlichen immer nach dem gleichen Muster ab. Ich sprach am Altar jeweils ein kurzes Dankesgebet, lies einige Münzen klingend in die Opferschale fallen und sprach dann den ranghöchsten anwesenden Geweihten mit der Bitte an, den Brief seinem Tempelvorsteher auszuhändigen und im Anschluss in der Kirchenhierarchie nach oben weiterzugeben. Das war im Großen und Ganzen kein besonders kompliziertes Unterfangen. Lediglich die Geweihten des Sonnengottes beäugten mich misstrauisch, als ich den Tempel betrat. Aber da ich nicht spontan in Flammen aufging oder mich vor Schmerzen am Boden wand ließ man mich auch dort gewähren. Am Vormittag hatte ich noch Ulmjescha und Nandurin dabei, einfach um Zeit mit ihnen zu verbringen. Ulmjescha war fasziniert von den vielen verschiedenen Tempeln die wir besuchten, allzu viele kannte sie anscheinend noch nicht von innen, und löcherte mich unentwegt zu den verschiedenen Göttern. Eine Praiostagsschule hatte sie offensichtlich noch nicht besucht. Ich kratzte mein Wissen aus der Götterkunde und dem Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisung zusammen um ihre Neugier zu befriedigen. Nandurin hingegen war schon nach dem zweiten Tempel recht gelangweilt von dem Ganzen und wurde von Gotteshaus zu Gotteshaus immer zappeliger. Deswegen ließ ich die beiden Kinder, auch wenn Ulmjescha gern weiter mitgekommen wäre, nach dem Mittagessen in der Villa zurück. Nach dem letzten Tempel den ich aufsuchte, es war der Hesindetempel St. Argelion im Universitätsviertel, entließ ich meine Sänfte. Den Rest des Tages, ich hatte mich bei Mutter für das Abendessen abgemeldet, würde ich ohnehin hier verbringen. Und vor dem Heimweg im Dunkel durch die Stadt mochten andere Angst haben, ich jedoch nicht.

Ich hatte, damit man mich auch in den Tempeln ernst nahm, heute Morgen bereits meine schlichte, schwarze Robe angelegt. Es sollten ja keine Zweifel aufkommen, dass ich ein Vertreter des örtlichen Arkanen Instituts war. Bis zum angebotenen Tutorium hatte ich noch einige Stundengläser, aber ich war ja gekommen um Professor Kugres zu treffen. Die juridische Fakultät war ein freistehendes Gebäude im nordosten des Universitätsgeländes und bestand, neben wenigen Unterrichtsräumen und einem Hörsaal, hauptsächlich aus der Bibliothek mit der umfangreichen Rechtssammlung. Es war schon einige Jahre her, seit ich mich das letzte Mal in diesen Teil der Universität verirrt hatte, verändert hatte sich aber in dieser Zeit nicht viel. Die spürbare Verzweiflung, die in diesem Gebäude stets präsent zu sein schien angesichts der unüberschaubaren Sammlung und nicht vorhandenen Struktur der Ius Meridiana lag immer noch wie ein Schleier über allem und den verzweifelten Gesichtern der angehenden Advocaten. Lediglich die Dozenten machten einen recht entspannten Eindruck, sie hatten ihre Schäfchen ja schon im trockenen. Ich Strich durch die Gänge bis ich Dotore  Kugres in einem der Unterrichtsräume fand, wie er eine kleine Gruppe, gerade einmal ein halbes Dutzend Scholaren, mit seinem Lieblingsthema, dem Maffiavelismus, quälte. Zwar erntete ich bis ich ihn gefunden hatte auf den Gängen den ein oder anderen zweifelnden Blick, viele der fertig studierten Kollegii des arkanen Instituts verliefen sich wohl nicht hierher, aber das focht mich nicht an. Ich blieb in der Tür stehen und lauschte den Ausführungen des Dotore, bis er seinen Vortrag beendet und die Hausarbeiten verteilt hatte. Selbstverständlich hatte er mich schon wahrgenommen, aber offensichtlich nicht als Anlass gesehen, seinen Unterricht zu unterbrechen. Nachdem alle Schüler gegangen waren trat ich ein, grüßte ihn in Hesindes Namen und deutete eine Verbeugung an. Dotore Kugres war schon ein wenig in die Jahre gekommen, sicherlich schon über 50 Götterläufe alt, hatte sich jedoch mit seinem langsam ergrauenden Haar und der hageren Gestalt recht ordentlich gehalten. Ich wollte mich gerade vorstellen, da unterbrach er mich auch schon. „Ich erinnere mich an Euch, junger Mann. Pellisario, richtig? Ihr habt bei mir die grundlegende Einführung in die Rechtskunde erhalten. Eher mittelmäßige Ergebnisse. Aber das ist für die Kollegen vom Arkanen Zweig ja normal, immer etwas anderes im Kopf…“ Ich nickte bestätigend. „Ihr habt wie immer Recht, Meister Kugres,“ schmeichelte ich ihm. „Dank Eurer profunden Ausbildung durfte ich sogar bereits einmal als fachfremder vor einem Gericht in Bethana als Advocat eines Angeklagten Kaufmanns stehen. Eure Worte an mich waren wohl nicht ganz vergeblich gewesen, es gelang mir die Unschuld des Angeklagten zu Beweisen.“ Diesmal war er es, der nickte. „Erfreulich, erfreulich, auch wenn das Rechtssystem des Horasreich natürlich weit simpler ausgestaltet ist, als das unsere. Aber ich vermute, es ist nicht der Anlass eures Besuchs, mir diesen Erfolg mitzuteilen, nehme ich an…“ und er legte fragend den Kopf schief wie eine alte Eule. „Und wieder habt ihr Recht, Dotore Kugres. Ich komme zu Euch als anerkannter Koryphäe sowohl im Vertragsrecht als auch im Staatsrecht. Meine Familie ist dabei, ein juristisch komplexes Vertragswerk aufzustellen, dass einen überstaatlichen Bezug hat, multiple stille Teilhaberschaften umfasst und dazu noch Auszahlungs- und Kapitalsicherungsmodalitäten regeln muss. Angenommen, meine Familie hätte sich noch für niemanden entschieden und würde sich dazu eines kompetenten Rechtsbeistands zur Kontrolle des Vertragswerks versichern wollen…“ ich ließ den Satz unvollendet Ausklingen, merkte aber schon das ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. „Dann, Herr Pelisarrio, würde ich euch entgegnen, dass sich dies nach einer spannenden Aufgabe anhören könnte, die jedoch nicht ganz günstig werden dürfte. Mein übliches Salär in solchen Fällen beträgt 10 Dublonen pro Seite des Vertragswerks Dafür könnte sich Eure Familie jedoch sicher sein, dass der Vertrag danach im Anschluss wasserdicht und nicht angreifbar wäre.“ Ich setzte mich, um meine Bereitschaft ihm weiter zuzuhören, auf einen der Schülerpulte. „Aber sagt, warum, kommt ihr damit zu mir? Soweit ich weiß arbeitet Euer Vater üblicherweise mit einem freien Advocaten am Hafen zusammen. Unser Berufsfeld ist eher klein, man kennt sich gegenseitig…“ „Nun, Dotore Kugres, ich bin kürzlich von einer längeren Reise zurückgekehrt und habe mich, als ich davon erfuhr, an Euren einprägsamen Unterricht erinnert. Ich habe an diesem Vertrag auch ein persönliches Interesse. Und es wäre möglich, dass ihr mit diesem Auftrag einen Fuß in meines Vaters zukünftige Geschäfte bekommen könnte. Betrachtet es als eine günstige Gelegenheit euch zu empfehlen. Ich wäre vielleicht in der Lage bei der Auftragsvergabe zu euren Gunsten auf meinen Vater einzuwirken.“ Er schien kurz zu überlegen. „Soso, könntet ihr das, junger Mann. Und das tut ihr aus reiner Reminiszenz an den Unterricht den ihr bei mir genossen habt und Menschenfreundlichkeit einem alternden Dozenten gegenüber?“ Phex verdammich, der Alte war nicht zu täuschen. Natürlich geschah in dieser Stadt nichts aus reiner Nächstenliebe. Und der Lehrstuhl für Mafiavelismus den der innehatte stellte nicht umsonst die Erlangung und Erhaltung politischer Macht in den Mittelpunkt und betonte, dass dabei jedes Mittel, unabhängig von Recht und Moral, legitim sein kann, solange es dem Ziel der Macht dient. Der reine Pragmatismus statt Philanthropie. Ich brauchte wohl gar nicht versuchen, um den heißen Bananenbrei herumzureden. „Wie immer ist Euer Scharfsinn unübertroffen, Dotore. Ihr könntet tatsächlich eine Kleinigkeit für mich tun, sozusagen im Gegenzug dafür, dass ich Euch diesen Auftrag vermittle.“ „Nun, dann stellt euch nicht so an, heraus mit der Sprache. So läuft das Geschäft nun einmal, da ist nichts Verwerfliches dran, Junge.“ Wenn er das so sah… „Im Hause Eurer Familie findet in einer Woche ein Maskenball statt, Dotore Kugres. Mir wäre daran gelegen, zu dieser Veranstaltung eingeladen zu werden.“ Ein trockenes Lachen war die Antwort. „Was? Nichts weiter? Ihr wollt einfach nur an diesem albernen kleinen Fest meines Bruders Antherin teilhaben?“ Ich nickte, jetzt etwas verlegen. „Euch ist bewusst, Junge, dass der halbe Silberberg und noch einmal so viele der wohlhabenden Fana zu Gast sein werden, oder? Da ist nichts Besonderes dran, zumindest für unsere Kreise. Ich würde noch nicht einmal hingehen, wenn ich eine gute Ausrede hätte…“ Ich straffte mich. „Dennoch wäre es für mich eine willkommene Abwechslung und Gelegenheit, selbst eine Einladung dazu zu erhalten. Insbesondre, wenn von den anderen geladenen Gästen niemand vorab von meiner Einladung wüsste. Ihr versteht,“ ich deutete auf meine Robe, „ich habe einen Ruf zu wahren.“ Er nickte wissend. „Nun denn, Junge. Ich hatte mit etwas herausforderndem gerechnet. Aber es sei so. Ihr werdet eine Einladung von mir in die Villa meiner Familie erhalten und auf der Gästeliste stehen. Dafür habe ich Euer Wort, dass Eure Familie diesen Auftrag an meine Wenigkeit vergeben wird. Und ich brauche nicht extra zu betonen, dass ich darauf Vertraue, dass ihr Euer Wort haltet oder was das Gegenteil bedeuten würde…“ Diesmal war es an mir zu nicken. „Selbstverständlich, Dotore. Selbstverständlich.“ „Dann ist es also abgemacht. Dafür benötigen wir nun wirklich kein Schriftstück.“ Diesmal lächelte er, und es schien ehrlich zu sein. „Ich werde Euch Eure Einladung als Karte ins Haus Eurer Familie bringen lassen.“ Ich reichte ihm die Hand und wollte mich, in höchstem Maße zufrieden mit mir selbst, schon zum Gehen wenden, als er mich noch einmal zurückhielt. „Ich habe bei dieser Angelegenheit eben euch übrigens positiv angerechnet, dass ihr darauf verzichtet in meinem Revier zu wildern und euch in Angelegenheiten meiner Fakultät einzumischen. Ich meine den Aushang, den ihr anscheinend vor zwei Tagen hinterlassen habt. Äußerst gewagt, muss ich sagen. Nicht unbedingt schlau, aber gewagt. Auch wenn die Zettel innerhalb eines Stundenglases schon wieder verschwunden waren, die Geschichte hat sich unter den Studenten wie ein Buschbrand verbreitet. Es gibt einige Kollegen, denen gegenüber es seitdem genügt euren Namen zu erwähnen, um regelrechte Tobsuchtsanfälle hervorzurufen. Ich fand nur, dass ihr dies Wissen solltet. Und nun, gehabt euch wohl. Ich bin auf morgen früh gespannt, wie sich diese Geschichte fortsetzt.“

Solcherart entlassen und aufgeklärt ging ich zurück auf das Gelände. Ja, mit etwas in der Art hatte ich gerechnet. Ich war nur gespannt, wie es sich äußern würde. Die nächsten beiden Stunden verbrachte ich damit ziellos über das Gelände zu streifen und hier und da den Gesprächen der Scholaren und Novizen zu lauschen. Nein, viel hatte sich da nicht verändert. Von übelster Aufschneiderei über den eigenen Lernfortschritt und Großtaten bis hin zur Verzweiflung angesichts der schieren Massen des zu lernenden Stoffs und Geschwätz über die Liebschaften untereinander war alles dabei, was es auch zu meiner Zeit schon gegeben hatte. Als der Gong die siebte Stunde schlug hielt ich neugierig ob ich dort allein sein würde auf den Kreuzgang zu. Ich will es gleich verraten, ich war nicht allein.

Eine scharfe, anklagende Stimme ertönte aus einem der Bögen. „Herr Pelisarrio, auf ein Wort!“ Ich sah über die Schulter, wie ein mir unbekannter Mann mittleren Alters in den Gang trat. Offensichtlich war er kein Magus, denn er trug keine Robe sondern eher legere Kleidung. Ich blieb stehen, drehte mich zu ihm um und richtete direkt das Wort an ihn. „Sehr erfreut. Ihr scheint mich bereits zu kennen, leider ist mir Euer Name nicht geläufig. Hättet ihr die Güte, mich in Hesindes Namen zu erhellen?“ Er baute sich vor mir auf, war einen knappen Kopf größer als ich. Dennoch empfand ich ihn nicht als bedrohliche Präsenz. „Alario Brabaka, Dotzend der Bothanik an der naturkundlichen Fakultät. Ich wollte Euch mitteilen, dass wir Euren Aufruf zu dieser Veranstaltung,“ dabei wedelte er unbestimmt mit der Hand ins Rund, „als außerordentlichen Affront uns gegenüber betrachten und euch auffordern, solcherart zu unterlassen.“ Ein amüsiertes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, das ihm nicht entging und anscheinend nicht zu seiner Beruhigung beitrug. „Nun, Herr Brabaka, sagt, haltet ihr Euch für einen guten Lehrer?“ fragte ich zurück. „Selbstverständlich,“ war die knappe, verschnupfte Antwort. Mit meinem freundlichsten, fast schon schmalzigen Tonfall erwiderte ich „Aber dann besteht doch für euch überhaupt kein Anlass zur Sorge. Denn wenn ihr tatsächlich so gut seid, wie ihr behauptet, werden eure Schüler doch überhaupt kein zusätzliches Tutorium benötigen, nicht wahr? Ihr könnt also völlig unbesorgt von dannen ziehen, da ich mich ja offensichtlich nicht in Eure Angelegenheiten einmische…“ Der Groschen fiel augenblicklich bei ihm. Wenn er nun auf seinem Standpunkt insistieren würde, gäbe er indirekt zu en schlechter Lehrer zu sein. Demzufolge fiel dem Herrn Brabaka anscheinend darauf keine passende Antwort ein, lediglich seine Gesichtsfarbe nahm einen deutlich dunkleren Ton an und er schien Schnappatmung zu bekommen, als er sich auf der Ferse umdrehte und den Gang entlang davon stürmte. Noch während er diesen dramatischen Abgang hinlegte rief ich ihm hinterher. „Seid darüber hinaus völlig unbesorgt. Mein Angebot richtet sich ohnehin nur an die Eleven des arkanen Instituts. Die übrigen interessieren mich kein Stück weit.“ Ich war mir aber nicht sicher, ob er das in seiner Rage überhaupt noch mitbekommen hatte.

Als ich mich wieder umwandte vernahm ich um das Eck des Kreuzgangs herum ein leises kichern. Aha! Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl beobachtet zu werden. Als ich um die Ecke kam standen dort ein Junge und ein Mädchen von vielleicht elf oder zwölf Jahren, die sich recht ähnlich sahen. Sie trugen die einfachen weißen Umhänge der jüngeren Eleven des arkanen Instituts und strafften sich, als ich ihrer Ansichtig wurde. „Und wen haben wir hier?“ fragte ich die beiden forsch. Sie zuckten ein wenig zurück. „Mizirio mein Name, wohlgelehrter Herr. Und das ist meine Schwester Alara,“ stellte sich der Junge nun etwas kleinlaut vor. „Wir sind wegen des Aushangs hier, den es gegeben haben soll. Wir sind nicht umhingekommen, Euer Wortgefecht mit dem Herrn Dozent Brabaka zu hören, dem ihr so vortrefflich den Mund gestopft habt.“ Ich nickte kaum merklich um ihm anzudeuten, das er fortfahren dürfe. „Stimmt es tatsächlich, dass ihr hier ein kostenloses Tutorium anbietet? Also tatsächlich ohne eine Gegenleistung zu fordern?“ Seinem Tonfall war ein ernster Zweifel anzumerken, so als könnte er sich dies überhaupt nicht vorstellen. Und ich verstand ihn nur zu gut! Seine stille Schwester hatte bis dahin nicht ein Wort gesagt. „Ich will meinen, junger Mizirio, dass ich meinen Zettel recht eindeutig geschrieben habe, ja. Es ist so, wie es darauf stand. Ich habe es nicht nötig eine Gegenleistung zu fordern, außer dass ich auf Hesindes Dank und Wohlgefallen hoffe.“ Ich nickte noch einmal bekräftigend. Nun erhob das Mädchen zum ersten Mal die Stimme, ein hoher, unsicher wirkender, piepsiger Ton. „Wir bräuchten, wenn es nicht zu viel verlangt ist, Herr, ein wenig Hilfe bei einigen Dingen mit der Alchemie. Mizirio liegt dieses Fach nicht besonders, und ich habe die letzten drei Einheiten verpasst, weil ich den Rotz hatte. Und keiner unserer Mitschüler will uns seine Aufzeichnungen geben. Und die Professora verlangt nun ein extra Handgeld, wenn sie uns die Stunde noch einmal halten soll, dass wir nicht haben.“ Diese Situation war mir nur zu bekannt, ich fühlte mit den beiden. Die neidigen Mitschüler und der gierige Lehrkörper – zwei der Grundübel dieser Einrichtung. „Sagt, Kinder,“ forderte ich sie auf, „wer ist Euer Patron? Ist der nicht bereit die paar Dublonen für Euren Erfolg bereit zu stellen?“ Sie schüttelten traurig den Kopf. „Die Domna Vasquez hält ihr Gold zusammen, Herr, und gibt nicht gern mehr als nötig um uns das Studium zu ermöglichen.“ Der Name war mir nicht geläufig, ich glaube sie war eine der geringeren Konkurrentinnen meines Vaters und unterhielt eine Hand voll Schiffe, war mir dessen aber nicht sicher. Aber das war eigentlich auch egal, denn selbst wenn nun ein verwöhntes Grandensöhnchen gekommen wäre, ich hatte mir ja vorgenommen hier Hesinde zu dienen und nicht über jemanden zu urteilen. Ich war ja im Gegenteil überhaupt erstaunt, dass dem Aufruf tatsächlich jemand gefolgt war. Also machte ich mich die nächsten zwei Stundengläser, bevor die beiden Kinder zurück in die Schlafsäle mussten, daran, ihnen die Prinzipien der Sympathetik und der modularen Substitution von Rezeptkomponenten nach den Lehren des Paramanthus zu erläutern. Die kleine Alara bewies dabei tatsächlich eine deutlich schnellere Auffassungsgabe als ihr Bruder Mizirio, der mich immer wieder einmal fast zur Verzweiflung brachte. Aber ich gab nicht auf und wiederholte ein ums andere Mal bestimmte Passagen und untermalte dies mit praktischen Beispielen aus der Spagyrik und anhand der verschiedenen Rezepturen eines Heiltranks. Ganz nebenbei erfuhr ich, dass die beiden sogar Zwillinge waren und von ihrer Herrin aus den Brabaker Baracken heraus von ihren Eltern fortgekauft worden waren. Die Zeit verging wie im Flug bis wir uns trennten und ich den Heimweg antrat. Mit entzündeter Stabfackel, auch der dümmste Dieb sollte sehen wer des Weges kam wenn ich durch die nächtliche Stadt ging und es sich zweimal überlegen, ob ein Überfall das Risiko lohnen würde, ging ich nach Hause

Wie nicht anders erwartet kam ich unbehelligt an unserem Anwesen an. Einmal war ich über eine angeheiterte Söldnertruppe gestolpert, die recht forsch auf mich zugesteuert war, es sich aber offensichtlich noch einmal anders überlegt hatte, als sie mich und den bösen Blick den ich ihnen zugeworfen hatte, aus der Nähe gesehen hatten. Ich ging kurz in die Küche und nahm mir unter den wachsamen Augen einer Magd einige Scheiben Brot, Käse und Oliven von der Anrichte. Natürlich wagte sie nicht, etwas einzuwenden. Wenn die Herrschaften abends noch hungert stand ihnen auch etwas zu essen zu. Sie hatte ja noch Glück das ich mich selbst bediente und ihr nicht noch Arbeit machte. Es war schon ruhig im Haus. Auch in meinem Zimmer war schon Ruhe eingekehrt, und heute schliefen Nandurin und Ulmjescha tatsächlich schon. Ich musste zugeben, insgesamt war ich mit dem Ergebnis des Tages sehr zufrieden. Mit dem Maskenball musste ich mir noch etwas überlegen, ich war schon gefühlt eine Ewigkeit nicht mehr auf einer solchen Veranstaltung gewesen. Aber das war ja das Schöne daran… solange man die Maske aufbehielt war es eine weitgehend unverfängliche Sache, wenn einen niemand erkannte. Und gerade das ich schon Jahrelang nicht mehr dabei gewesen war garantierte schon fast, dass ich, wenn ich es wollte, dort anonym und ungeniert tun und lassen konnte, was ich wollte. Das würde ein Spaß werden! Wieder an Visaria denkend, welches bezaubernde Kostüm sie wohl zur Schau stellen würde, schlummerte ich ein.

Die Nacht und das Aufstehen verliefen ausnahmsweise einmal ruhig. Langsam kehrte so etwas wie eine erste Routine mit den Kindern ein, die wir uns zu eigen machten. Beim Frühstück stand alles im Zeichen unseres heutigen Aufbruchs, der zur zehnten Stunde erfolgen sollte. Der Tisch war zwar immer noch üppig, aber nicht verschwenderisch gedeckt. Vor allem, wie mir auffiel, hauptsächlich mit Dingen, die man, wenn sie übrigblieben, direkt in einen Proviantkorb packen und mitnehmen konnte – Mutter war da ähnlich wie Vater sehr praktisch veranlagt. Kaum das wir uns gesetzt hatten, fasste mich Liliana ins Auge. „Victor…“ Ich widmete ihr meine Aufmerksamkeit. „Ich soll dir eine Nachricht von Visaria ausrichten. Sie ist ein wenig unglücklich, dass ihr euch seit dem Abendessen nicht mehr gesehen habt und du jetzt mit uns eine Woche außerhalb der Stadt sein wirst. Sie wird, rein zufällig, heute zur zehnten Stunde im Palmenpark flanieren, nachdem sie kürzlich erfahren hat, dass du dort ja auch gelegentlich anzutreffen zu sein scheinst.“ Dabei zwinkerte sie mir zu. „Und falls du diesen Wink nicht verstehen solltest…“ Ich winkte ab und unterbrach sie damit, so dass sie gar nicht weiterreden musste. „Mutter, mir ist gerade eingefallen, dass ich heute noch eine dringende Erledigung in der Stadt zu tätigen habe. Meine neue Robe müsste beim Schneider zur Anprobe bereit liegen…“ Liliana schnaubte, verkniff sich jedenfalls einen Kommentar, vermutlich über die schlechteste Ausrede aller Zeiten. Mutter hingegen lächelte wissend. „Natürlich, Victor. Wir hatten ohnehin vor eine der Trosskutschen die noch mit Vorräten beladen wird und frischen Sklaven im Anhang versehen ist später nachkommen zu lassen. Schau einfach, dass du dann mit der Kutsche nachkommst.“ Bei der ganzen Konversation hatte ich mit einem Auge auf Ulmjescha geachtet. Ja, da war es. Eine unmerkliche Reaktion, ein Stirnrunzeln, kaum merkliche verzog sie die Mundwinkel und hatte einen traurigen Ausdruck in den Augen. Ihr war diese Entwicklung offenbar überhaupt nicht recht, auch wenn es außer mir vermutlich niemand bemerkte. Aber sie konnte sich kaum herausnehmen gegen solch eine Entscheidung der Herrschaften Einwand zu erheben, ohne dass es ungeziemlich wirkte. Richtig? Das schien ihr auch selbst bewusst zu sein, denn sie verbiss sich jeden Kommentar dazu und kümmerte sich nun besonders intensiv um Nandurin, der mit seinem Fladenbrot herumspielte. Ich freute mich bereits auf das Wiedersehen mit Visaria und konnte es kaum erwarten, dass die Zeit fortschritt, hatte aber die Rechnung erneut ohne meine Eltern gemacht.

„Apropos Visaria,“ setzte Mutter an, „da du ja nun genügend Geld beisammen hast um dir Deine Arbeit aussuchen zu können, wie gedenkst du in Zukunft deinen Lebensunterhalt zu bestreiten, Victor. Du wirst uns doch im Familiengeschäft erhalten bleiben, oder?“ Vater nickte bestätigend. „Das will ich wohl meinen. Außerdem, Junge, lass dir gesagt sein, der Unterhalt für eine Frau mit gewissen Ansprüchen verlangt nach einem regelmäßigen und ausreichenden Einkommen, etwas Beständiges und Verlässliches am besten. Das kann ich dir aus gesammelter Erfahrung sagen.“ Bei der Erwähnung der Verbindung mit einer Frau zuckte Ulmjescha kaum sichtbar zusammen, die Kleine war ja auch nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen. Irgendwann musste es ja zu dieser Art Aussprache kommen. Darauf hatte ich mich schon ein wenig vorbereitet, aber so eine richtig schlüssige Lösung wie ich meinen Eltern meinen Entschluss überzeugend und schonend beibringen sollte, hatte ich bisher nicht gefunden. Also musste ich improvisieren. „Natürlich, Vater. Ich denke schon, dass ich weiter in unserem Hause wohnen und arbeiten sollte. Zumindest die meiste Zeit.“ Das brachte mir das erste abwartende Stirnrunzeln meiner Eltern ein. „Natürlich stehe ich der Familie jederzeit zur Verfügung, wenn sie mich braucht und muss mich ja auch irgendwann um die Fortbildung und nicht zuletzt mögliche eigene neue familiäre Verpflichtungen kümmern.“ Meine Eltern schienen sich etwas zu entspannen, bevor ich nun das Fass mit Hylailer Feuer platzen ließ. „Aber ich glaube, meine wahre Berufung und Hauptbeschäftigung dürfte in Zukunft die Jagd auf Diener des Namenlosen werden.“ Mit einem Schlag war es totenstill im Speisesaal. Eine Gabel fiel klappernd auf einen Teller. Liliana gab ein entsetztes Keuchen von sich. Vater hatte sich anscheinend an seinem Kuchenstück verschluckt und begann krächzend zu Husten. Von meinem Halbbruder Rorwyn, der heute mit uns speiste, weil er die Karawane organisiert hatte, war ein prustendes Geräusch zu hören mit dem er einen Teil seines Frühstücks über den Tisch verteilte bevor er es schaffte die Hand vor den Mund zu nehmen. Lediglich in Ulmjeschas Augen und Mine konnte ich unverhohlene Bewunderung lesen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mutter war leichenblass und legte mühsam beherrscht mit zitternden Fingern ihren Löffel beiseite, als sie mich mit einem eisernen Blick fixierte. „VICTOR DONDOYA D’PELLISARIO…“, an ihrem Tonfall konnte ich schon hören, dass das was nun gleich kommen würde mir überhaupt nicht gefallen dürfte. So hatte sie mich früher immer zur Räson gerufen, bevor ich auf die Akademie gegangen war. „Ich sage dir das jetzt in aller Deutlichkeit. Du wirst nichts dergleichen Lächerliches und Gefährliches tun, hast du mich verstanden! Du bist viel zu wertvoll für die Familie, als das wir uns es erlauben könnten, dass du dein Leben bei solchen Unternehmungen auf das Spiel setzen solltest. Überlass das gefälligst denen, die dafür zuständig sind, den Priestern und Hexenjägern. Du wirst diesen Irren nicht alleine und selbständig hinterherrennen. Und ich bin mir sicher, Visaria wird das auch nicht gutheißen!“ Ich schluckte. So eine deutliche Reaktion hatte ich nicht erwartet. Hatte ich nicht mit meinen Abenteuern und Geschichten bewiesen, dass ich mit der Gefahr umgehen konnte? Da waren ja meine Gefährten leichter auf die Anwesenheit und Anrufung von Dämonen vorzubereiten, als meine Eltern auf meine zukünftigen Wünsche. Ich hätte nun trotzige Widerworte geben können, schließlich war es ganz allein meine Sache, was ich für meine Zukunft plante. Auf der anderen Seite war es Mutter, die diese Worte gesprochen hatte. Haben die Götter nicht verfügt, dass man Vater und Mutter ehren sollte? „Ja, Mutter, ich habe dich verstanden“, erwiderte ich kleinlaut und erntete dafür einen überraschten und etwas enttäuschten Blick von Ulmjescha. „Gut. Dann ist das geklärt. Und ich will in Zukunft nichts mehr von solchen Narreteien hören,“ waren die letzten Worte meiner Mutter. Der Rest des Frühstücks verlief in deutlich gedämpfterer Stimmung und ging nun recht schnell vorbei, bis alle sich ihren letzten Vorbereitungen vor der Abfahrt widmeten.

Ich trottete mit Nandurin im Arm und Ulmjescha an der Hand zurück in mein Zimmer. Ich glaube, dass letzte Mal, dass ich dermaßen zurechtgewiesen wurde, musste schon mehr als ein Dutzend Götterläufe her sein. Ulmjescha legte mir tröstend ihre Hand auf den Arm und ich nahm diese Zuwendung dankbar an. Wenigsten eine, die an mich glaubte. Im Zimmer machten wir uns nun eilig daran alles fertig zu bekommen. Ulmjescha packte Nandurins und ihre letzten Sachen in eine kleine Reisekiste, die bald darauf ein Sklave hinaus zur Kutsche schaffte. Ich hatte ja mein Gepäck eigentlich immer im Rucksack und der Umhängetasche bereit und musste mich nur noch entscheiden, welches Buch ich als Lektüre mitnehmen wollte. Ich entschied mich für die Magie des Stabes – irgendwann würde ich mich auch daran machen müssen meinen Stab weiter zu stärken und mein Bannschwert zu weihen. Dann war schon die Zeit gekommen, dass die Familie los wollte, während ich mich auf den Weg zum Palmengarten machte. Ich verabschiedete mich von Nandurin und Ulmjescha mit einer Umarmung und einem Küsschen auf die Backe, bevor ich aufbrach. Ulmjescha klammerte sich an mich, so als wollte sie mich nicht gehen lassen, bevor ich mich sanft auf ihrer Umarmung löste. Den Dienern mit der Trosskutsche schärfte ich ein, egal wie lange es bei mir dauern mochte, nicht ohne mich abzufahren. Unsere Plantage lag etwa sechs Wegstunden außerhalb der Stadt, also würden wir im schlimmsten Fall, je nachdem wie lang ich eben brauchte, halt in der Dunkelheit heute Abend ankommen. Damit konnte ich angesichts dessen was mich erwarten mochte aber gut leben.

In unserem Garten schnitt ich mit meinem Dolch noch eine rote Rose vom Busch und schabte sorgfältig die Dornen vom Stiel. Nicht das sich meine süße Visaria in ihre zarte Hand stach. Im Palmengarten angekommen bot sich mir das vertraute Bild. Einige Ammen und Kinder, finster dreinblickende Beschützer und derzeit noch nur wenig Jungvolk. Ich war definitiv nicht zu spät, denn der Ausrufer begann gerade erst seinen Boronsruf zur zehnten Stunde. Aber Visaria war schon da und saß mit überschlagenen Beinen auf einer der Bänke unter einer ausladenden Palme und blickte aufmerksam Richtung Eingang des Parks zu mir herüber. Ein wenig hinter ihr, halb versteckt vom nächsten Baum sah ich ihre Begleitung – zwei Beschützer in den Farben der Ulfharts und eine ältere Frau, die wohl Anstandshalber mitgeschickt worden war. Ich musste mich zusammennehmen um nicht eilig zu ihr hinüber zu rennen, und ihr ging es wohl nicht anders. Mühsam beherrscht gingen wir gemessener Schritte aufeinander zu. Wieder bewunderte ich ihre makellose, rahjagefällige Erscheinung. Heute trug sie ein tiefblaues Seidenkleid das schlicht aber elegant an ihrer schlanken Figur herabfloss, dazu einen passenden breitkrempigen Hut als Sonnenschutz und ein zierliches Schirmchen gegen die Praiosstrahlen. Ihre kleinen Füße steckten in cremefarbenen Schaftstiefeln die ihr bis fast an die Knie reichten, welche man noch sehen konnte, da das Kleid knapp darüber aufhörte. Wie eine Vision von Rahja persönlich schwebte sie auf mich zu, das Gesicht kokett hinter einem Fächer verborgen. Als wir uns gegenüberstanden verbeugte ich mich formvollendet und reichte ihr die rote Rose, die sie mit einer gezierten Geste entgegennahm, an ihren Hut steckte und mir dann die Hand zum Kuss darbot, den ich auf ihren Handrücken hauchte. Ich hätte ja viel lieber etwas ganz anderes geküsst, aber aus dem Augenwinkel sah ich die streng zu uns starrende Anstandsdame. Ich bot ihr den Arm an, worauf sie sich bei mir unterhakte und wir begannen durch den Park zu spazieren. Mit gedämpfter Stimme, damit uns die Aufpasser nicht belauschen konnten, begannen wir uns zu unterhalten. Zunächst kam das Gespräch auf die Dame Ugonez-Palligan, wo ich natürlich versicherte, dass diese bei weitem nicht mit Visarias Liebreiz mithalten konnte und mir dafür der neueste Tratsch über dieses Flittchen und ihren tumben tobrischen Begleiter berichtet wurde. Ihre andere Hand lag dabei stets auf meinem Oberarm und sie beugte sich immer wieder zu mir herüber, wenn sie mir etwas ins Ohr flüsterte. Jedesmal schnupperte ich dabei diesen betörenden Duft, den sie mir mit dem Tuch zugeschickt hatte. Ich hätte am liebsten mein Gesicht in ihrem Haar vergraben, musste mich aber zusammenreisen. Das hätte sicher ihren Wachhund auf den Plan gerufen. Ich erzählte ihr dafür von meinen Erlebnissen gestern Abend in der Akademie mit den Scholaren. Den anderen Teil ließ ich wohlweislich aus, wäre aber fast geplatzt, weil es mich drängte ihr davon zu erzählen, dass ich wohl nächste Woche ebenfalls den Maskenball besuchen kommen würde. Aber das sollte ja eine Überraschung werden. Trotzdem war es schwer, mich zu konzentrieren und dieses Geheimnis für mich zu behalten. Am liebsten hätte ich sie ja gefragt, ob sie mir vertraue und uns dann beide mittels eines Transversalis ihren Wächtern entzogen, vielleicht einfach zurück in unsere Villa und mein Zimmer. Aber ich war mir fast sicher, dass dieser Schabernack bei ihrer Tante nicht unbedingt gut angekommen wäre, verkniff es mir also. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als sie sich, wieder einmal, wie bereits dutzende Male vorher, zu mir herüber beugte. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass ihr Schirm genau in diesem Augenblick die Sicht zu ihren Aufpassern verdeckte als ihre Lippen das letzte kleine Stück zu mir herüber zurücklegten. Als ich überrascht den Kopf zu ihr drehte fanden ihre Lippen die meinen zu einem sanften, aber unglaublich sinnlichen Kuss, den sie gerade so lange hielt wie es ihr wohl als unverdächtig erschien, bis sie den Schirm wieder hob und wir weitersprachen, als wäre nichts gewesen. Zumindest hoffe ich, dass mich mein perplexer Gesichtsausdruck nicht verriet, wie mir ihr mädchenhaftes Kichern andeutete. Oh, sie schien dieses Spiel deutlich besser zu beherrschen, als ich. Ich spürte noch den Geschmack ihres Kusses, eine leicht fruchtige Note wie von Kirschen, auf meinen Lippen, selbst als sie sich schon wieder von mir zurückgezogen hatte. Mein Herz wollte mir schier aus der Brust springen, mein Geist schwirrte, als wäre er in einen Schwarm Borbaradmoskitos geraten, die mir das letzte bisschen Verstand aussaugten. Warum, bei Rahja, war es mir nicht vergönnt sie einfach in die Arme zu nehmen, fest an mich zu ziehen und in einem tiefen Kuss mit ihr weiter zu schwelgen wie ein verhungernder beim Festmahl des Patriarchen?

Visaria hatte hier eindeutig die Fäden in der Hand. Ich hatte es gar nicht bemerkt, aber sie hatte unsere Schritte wie selbstverständlich zu einer ausgebreiteten Decke mit einem Körbchen darauf gelenkt, die anscheinend nur auf uns wartete. Und ich hatte mir eingebildet, ich würde sie am Arm führen… so kann man sich täuschen. Mit einer anmutigen, fließenden Bewegung ließ sie sich darauf nieder, ich ihr gegenüber, wobei wir uns weiter ständig tief in die Augen blickten. Ich hätte in diesem tiefen Brunnen ihres Blicks einfach nur ertrinken wollen. Und mich dann vorbeugen, sie zu Boden ziehen und mich an sie schmiegen. Was ich natürlich nicht tat! Aber meine Vorstellungskraft entwickelte gerade ein fantasievolles Eigenleben, das ich nur mühsam zügeln konnte. Ich drückte mein tiefes Bedauern aus, dass sie uns nicht auf die Plantage meiner Eltern begleiten konnte, und ihr ging es wohl nicht anders. Aber dann begannen wir Pläne zu schmieden, was wir alles auf unserer baldigen Reise ins Reich des Horas würden erleben wollen und vergasen darüber schier die Zeit. Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung, wie ich die Erlaubnis ihrer Tante würde erlangen können, aber ich hoffte inständig, dass sich auch hier Hesinde wieder erbarmen mochte und mir eine zündende Idee sandte. Zur Not, scherzte ich, könnte ich sie ja wie ein verwegener Korsar entführen und einfach mitnehmen. Nur den Part mit den geschwungenen Entermessern würde ich wohl unterlassen müssen. Sie fand die Vorstellung anscheinend ziemlich amüsant und lachte ihr glockenhelles, wundervolles Lachen, während wir begannen uns gegenseitig mit den geschnittenen Früchten aus ihrem Korb zu füttern. Rahja hilf! Allein die Bilder die in meinem Kopf entstanden, als sich ihre sinnlichen Lippen um die Früchte schlossen machten mir schon das Denken schwer. Als wir die Schale mit dem Obst zur Neige gebracht hatten und ich ihr das letzte Stück anbot senkte sie wieder, wie zufällig, ihren Schirm ein Stück herab und verdeckte den Blick zu unseren Wächtern, die ich schon fast vergessen hatte. Als ich die letzte Arange zwischen ihre Lippen schob hielt sie meine Hand fest  während sie das Obststückchen herunterschluckte, nur um dann meine vom Fruchtsaft klebrigen Finger mit ihrer süßen kleinen Zunge wie ein Kätzchen abzuschlecken, das seine Milch leckte, und dabei die ganze Zeit mit ihrem tiefen Blick meine Augen gefangen hielt. Ich schwöre bei Hesinde, ich wäre fast in Ohnmacht dabei gefallen! Viel zu schnell ging dieser Augenblick vorbei, als sie schon wieder den Schirm anhob und mich unschuldig kichernd anlächelte. Ich kann es nicht anders sagen, dieses Mädchen beherrschte das Spiel – und auch mich – geradezu meisterlich. Im Gegensatz zu mir. Sie brauchte überhaupt keinen Liebestrank oder Zauber um mich völlig willenlos neben sich zu halten. Solche Gefühle hatte ich noch nie gespürt, und dabei war doch gar nichts weiter geschehen! Die Erinnerungen an vergangene Orgien und Tempelbesuche schien mir mit einem Mal fad und öde, wie Bilder ohne Farbe und Leben. Die Zeit verging wie im Flug und der Boronsrufer erhob seine Stimme um die erste Stunde zu verkünden, als die Anstandsdame sich uns sittsam näherte und Visaria verkündete, dass die edle Dame rechtzeitig zum Nachmittagskaffee zurückerwartet würde. Meinen traurigen, ja fast niedergeschlagenen Blick erwiderte sie mit einem aufmunternden Lächeln, das voll Verheißung für die wartende Zukunft steckte. Ich erhob mich und bot ihr die Hand um ihr ebenfalls von der Decke aufzuhelfen. Sie zog sich daran hoch und stolperte, wie zufällig, dabei etwas nach vorne, um in meine Arme zu fallen, die sich reflexartig um sie schlossen. Für wenige Augenblicke drängte sie ihren schlanken Leib gegen mich, ich spürte die Wärme ihrer Nähe, schwelgte in der Wolke ihres Dufts, die sich über mich ergoss und hörte sie gerade noch verstohlen hauchen „Bald, mein Liebster. Komm nur schnell wieder zu mir zurück, lass mich nicht wieder so lange auf dich warten“, als sie sich schon wieder von mir löste, verlegen kicherte – ich war mir sicher, dass das nur für ihre Anstandsdame gespielt war – und sich ihr Kleid glattstrich. Die Dame hatte derweilen die Decke und den Korb zusammengeräumt und hüstelte entrüstet, als sie uns ansah. Dann schwebte meine süße Blume aus dem Park wie eine vergehende Fatamorgana, die mich als in der Wüste Verdurstenden zurückließ.

Vom Rückweg zur Villa bekam ich gar nicht viel mit, weil mein Geist sich weigerte sich von diesem wundervollen Erlebnis zu lösen. Wäre mir heute der Stern von Elem auf den Kopf gefallen, ich wäre als glücklicher Mann gestorben! Die Diener warteten schon mit dem fertig gepackten Wagen und einem dahinter angebundenen guten Dutzend neuer Sklaven für die Plantage. Mit traumwandlerischem Schritt ging ich auf mein Zimmer, holte meine Sachen und setzte mich auf den zweiten Platz des Kutschbocks. Zuckelnd setzte sich der Zug in Bewegung, um uns zum Ziel zu bringen. Den größten Teil des Weges verträumte ich, bis wir abends sogar noch vor Einbruch der Dämmerung auf der Plantage ankamen.

 

Vom Rückweg zur Villa bekam ich gar nicht viel mit, weil mein Geist sich weigerte sich von diesem wundervollen Erlebnis zu lösen. Wäre mir heute der Stern von Elem auf den Kopf gefallen, ich wäre als glücklicher Mann gestorben! Die Diener warteten schon mit dem fertig gepackten Wagen und einem dahinter angebundenen guten Dutzend neuer Sklaven für die Plantage. Mit traumwandlerischem Schritt ging ich auf mein Zimmer, holte meine Sachen und setzte mich auf den zweiten Platz des Kutschbocks. Zuckelnd setzte sich der Zug in Bewegung, um uns zum Ziel zu bringen. Den größten Teil des Weges verträumte ich, bis wir abends sogar noch vor Einbruch der Dämmerung auf der Plantage ankamen.

 

 

Die nächsten Tage waren tatsächlich die meiste Zeit von Müßiggang geprägt, so dass ich hier niemanden mit langweiligen Beschreibungen davon belästigen will, wie ich es mir im Garten gemütlich machte um in völliger Entspannung mein Buch zu lesen oder an meinem schriftlichen Bericht für die Spektabilität feilte. Nur einige kleinere Begebenheiten, die vielleicht doch der Erwähnung wert sind, seien in der gebotenen Kürze und auch nicht völlig in der korrekten chronologischen Reihenfolge angemerkt.

Nandurin fand, und das freute mich sehr, tatsächlich einige Spielkameraden. Hier draußen, fernab der Stadt, war das Leben einfach etwas ungezwungener. So duldete selbst Mutter, dass er sich zum Spielen mit einigen Kindern der Dienerschaft in vergleichbarem Alter umtat und mit der johlenden Schaar durchs Haus und über das Gelände tobte. Ja, es war ein Segen der Götter in eine Familie wie die meine geboren zu werden. Aber die hohe Geburt kann bisweilen auch ein Fluch sein, wenn dem Kinde nicht vergönnt ist auch ein Kind sein zu dürfen. Nun, hier jedenfalls schien es einmal nicht so zu sein. Und es war mir jedes Mal eine herzerwärmende Freude, wenn ich das wilde Pack vorbeistieben sah oder Nandurin am Abend abgekämpft, verschrammt und erschöpft aber glücklich ins Bett fiel und mit den letzten Atemzügen von seinen Abenteuern des Tages erzählte.

Das führte auch dazu, dass Ulmjescha nun tatsächlich die Gelegenheit gehabt hätte, einmal Zeit für sich selbst zu haben. Ich verstand nur nicht ganz, warum sie es nicht tat. Manchmal musste sie natürlich schon nach den Kindern sehen, damit die Horde nicht zu viel Unfug anstellte oder sich gar in Gefahr brachte. Aber es wäre ihr genug Zeit für Müßiggang geblieben. Leider war ihr es nicht vergönnt Anschluss an die übrigen Diener zu finden. Sie hatte im letzten halben Jahr sich schon unwahrscheinlich gut an ihre Umgebung im für sie neuen Süden angepasst. Selbst unsere Art zu sprechen, das Brabaki des Südens war doch etwas ganz anderes als der breite bornländische Dialekt, hatte sie sich schon halbwegs zu eigen gemacht. Auch wenn sie nach wie vor einen recht ungewöhnlichen Zungenschlag hatte, der überaus drollig wirkte wenn sie versuchte das Brabaki wie wir zu sprechen. Aber sie wollte anscheinend auch gar nicht so sehr mit anderen Kindern ihres Alters, die zudem ohnehin zumeist selbst arbeiten mussten um den Ansprüchen meiner Familie gerecht zu werden, herumspielen. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass sie sich ständig in meiner Nähe aufhielt. Nicht auf aufdringliche oder lästige Art. Aber sie war stets zugegen, egal was ich gerade tat. Ich las in meinem Buch – sie hatte in der Nähe zu tun und kümmerte sich um meine und Nandurins Garderobe. Ich schrieb an meinem Bericht – sie bürstete in der Nähe ihr Haar oder polierte Besteck und Geschirr. Ich ruhte mich in der Mittagshitze auf einem Diwan aus – sie lag mit Nandurin direkt bei mir oder in der Nähe auf einem Kissen. Es war fast, als hätte sie sorgen mich noch einmal aus den Augen zu lassen. Am dritten Tag unseres Aufenthalts begann ich schließlich, ihr doch etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen – und fing damit an ihr die ersten Schriftzeichen des Garethi und Tulamidia beizubringen. Allein die Tatsache, dass ich ihr meine Zeit schenkte und diese mit ihr verbrachte ließ sie erstrahlen und aufblühen wie eine kleine Blume. Abgesehen davon, dass sie auch noch eine äußert gelehrige und wissbegierige Schülerin war, deren schnelle Auffassungsgabe mich ein ums andere Mal erstaunte. So saßen wir ab da jeden Tag zwei oder drei Stunden beisammen, meist am Nachmittag oder Abend, und ich führte ihr die Hand bei neuen Buchstaben, lobte, wenn sei den Stift ordentlich hielt und freute mich einfach darüber, wie schnell sie allein umsetzte, was ich ihr kurz zuvor erst gezeigt hatte. Hätte sie magische Begabung besessen, sie wäre sicher eine hervorragende Scholarin geworden. Aber Mada schenkt ihre Gunst nun einmal nicht jedem…

Liliana hatte es natürlich nicht lange ausgehalten im ungewissen zu sein. Ich hatte kaum das verspätete und daher etwas spärlichere Abendessen nach meiner Ankunft auf der Plantage eingenommen, da stand sie schon hinter mir und zupfte an meiner Robe. Natürlich wollte sie wissen, wie das Rendezvous im Palmenpark gelaufen war. Wenn sie noch sieben Tage hätte warten müssen, bis sie dazu Visaria hätte befragen können, ich glaube es hätte sie vor Neugier zerrissen. So blieb also ich als einzige verfügbare Informationsquelle dazu übrig. Das war aber etwas, das ich weder vor den Ohren meiner Eltern noch vor Ulmjescha oder sonstwem erzählen wollte, so lieb ich sie alle hatte. Liliana war die einzige, der ich dies zugestehen mochte. Außerdem hätte sie es ja später sowieso erfahren, da war ich mir sicher. Also schnappten wir uns einen Lampion und gingen hinaus in den weitläufigen Garten. Dort statt ein von wildem Wein eingewachsener Pavillon, in dem wir früher als Kinder schon verschwunden waren, wenn es etwas gab wovon nur wir wissen sollten. Als wir die schummrige Laube betraten weckte dies sogleich wieder Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Viel hatte sich wahrlich nicht geändert. Nur eine neue Bank war anscheinend in den letzten Jahren – ich war schon länger nicht mehr hier gewesen wie mir nun auffiel – zusätzlich aufgestellt worden. Ich nahm darauf Platz und Liliana setzte sich mit erwartungsvollem Blick nah neben mich. Kurz ließ ich sie noch zappeln, einfach weil ich es konnte, bis sie mich in den Arm knuffte. Also erzählte ich ihr, was im Palmenpark geschehen war. Im Nachhinein betrachtet war es eigentlich gar nicht viel. Und doch breitete sich allein dabei, als ich es Liliana berichtete, schon wieder ein warmes Gefühl in meiner Brust aus und ein schmerzhaftes sehnen nach Visaria bemächtigte sich meiner. Vielleicht hätte ich doch in Al’Anfa zurückbleiben sollen. Wie sollte ich nur die nächsten Tage ohne sie überstehen. Meine Schilderungen wurden immer wieder einmal von Seufzen oder Lilianas mädchenhaftem Kichern unterbrochen. Sie fieberte bei alldem mit, als würde ich wieder einmal von einem meiner großen Abenteuer erzählen. Ich war bereits zum Ende gekommen und wir tuschelten nun, was mich wohl nächste Woche auf dem Ball erwarten würde, als ich meinte ein leises Rascheln im Weinlaub über uns zu hören.

Meine Sinne waren, vermutlich dank der unzähligen Gefahren denen ich mich schon gestellt hatte, recht sensibel, was Ungewöhnliches in jeglicher Situation anging. Und dieses Rascheln war ungewöhnlich. Das war nicht der Wind, der durch die Blätter strich, da war ich mir sicher. Allerdings sah ich im Dunkel über unseren Köpfen kaum etwas. Der mitgebrachte Lampion strahlte sein Licht eher zur Seite ab, nicht nach oben. Langsam und vorsichtig angelte ich nach der Lampe und zog sie zu mir herüber. Liliana blickte mich verwirrt an, als ich an ihr vorbei langte. „Was ist los Victor?“ „Pscht…, bleib ganz ruhig, Lili. Beweg dich nicht.“ Als ich die Lampe in der Hand hielt kippte ich sie, soweit ich es meinte riskieren zu können, und leuchtete schräg hinauf zum Blätterdach über uns. Ja, dort war etwas. Es dauerte ein wenig, bis sich meine Augen auf das Zwielicht eingestellt hatten. Liliana hingegen schien deutlich besser zu sehen als ich, ein unterdrückter Schrei entrang sich ihrer Kehle, als sie die Hand vor den Mund schlug. Dann sah ich es auch. Kaum zwei Schritt von uns entfernt schlängelte sich eine rote Blutotter durch das Geäst und ließ sich in just diesem Augenblick halb von oben herunterhängen, wie ein vergessenes Seil, die kleinen bösartigen schwarzen Augen schienen uns zu fixieren. Mit einer möglichst ruhigen Bewegung schob ich mich vor meine Schwester, was mich zwar ein kleines Stück näher an die Schlange brachte, aber dafür Lili schützte, und wechselte die Lampe in die linke Hand. Mein Herz schlug nun schneller, aber die vergangenen Jahre hatten meine Nerven gestählt. Furcht, gar Panik, wäre jetzt ein schlechter Berater. Die Schlange züngelte in unsere Richtung, das Maul mit den beiden jetzt gut zu sehenden Giftzähnen weit aufgesperrt. Nein, ich würde ihr keine Gelegenheit geben einen von uns beiden zu verletzen. Langsam, fast bedächtig, zog ich die rechte Hand vor die Brust, ballte sie zur Faust, spreizte dann meine Finger. Meine feste Stimme war in der Nacht zu hören. Nicht laut, kein unbeherrschter Schrei, nur ein eiskalt und klar formuliertes Wort, das die Kraft in die richtigen Bahnen lenkte. „Fulminictus“. Augenblicklich erschlaffte der Schlangenkörper, löste sich raschelnd ohne weiter Halt zu finden aus den Ästen über uns und fiel mit einem dumpfen Plopp kaum mehr als einen Schritt vor mir auf den Boden. Hinter mir hörte ich ein erschrockenes Keuchen von Liliana und spürte, wie ihr Körper instinktiv zurückzuckte, weg von der vermeintlichen Gefahr. Zur Sicherheit stieß ich die Schlange noch mit dem Zauberstab an, aber es gab keinen Zweifel, das Untier war tot. Mit dieser Gewissheit entspannte ich mich wieder. „Alles ist gut, Lili… die Otter kann uns nicht mehr gefährlich werden, sie ist tot.“ Dann brachte ich meine zitternde Schwester zurück in das Herrenhaus. Einen Diener, der wenig begeistert dreinschaute, wies ich an die tote Schlange wegzuräumen. Nicht das Nandurin morgen noch meinte, damit spielen zu müssen! Als sich Liliana wieder halbwegs beruhigt hatte, was nach einem Glas Wein das wir uns gönnten der Fall war, bedankte sie sich bei mir, und aus ihrer Stimme schwang auch so etwas wie Bewunderung mit, meinte ich zu hören. „Das ist schon das zweite Mal, dass du mich vor einer Schlange rettest.“ Sie lächelte mich an. Wäre sie nicht meine Schwester, ich würde mich sicherlich auch in sie verlieben können. „Bei dir bin ich sicherer, als bei jedem Wächter den mir Vater mitgeben könnte. Du solltest nicht so oft auf Reisen gehen, sondern lieber bei uns bleiben.“ Ich nahm sie in den Arm und drückte sie an mich. „Lili… was denkst du denn, warum ich dich beschützen kann? Doch nur, weil ich auf meinen Reisen lerne so zu handeln wie es nötig ist. Aber ich verspreche dir, wenn es nicht unumgänglich ist werde ich in Zukunft mehr daheim und bei euch sein…“ Und das nahm ich mir auch fest vor. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass sicher immer wieder die Bedrohung für Dere, meine Heimat oder die Familie so groß wäre, dass ich mich dafür verantwortlich fühlen würde. Aber wann es wieder geschehen könnte lag ohnehin nicht in meiner Macht – das mochte allein Satinav wissen.

Zuguterletzt sei noch von einer Begebenheit erzählt, die mir wieder einmal deutlich machte, wie sehr sich mit der Zeit die Perspektiven verschoben. Am vorletzten Tag meines Aufenthalts auf Santa Marbonia erfasste mich ein Anflug von Nostalgie und ich beschloss einen Ausflug in den Dschungel zu unternehmen um Nandurin und Ulmjescha den Baum zu zeigen, aus dem ich meinen Zauberstab geschnitzt hatte. Nun verfüge ich zwar über ein hervorragendes Erinnerungsvermögen, aber von meinem Orientierungsvermögen kann ich leider nicht dasselbe behaupten. Also suchte ich den alten Sklaven Toa’Torno, der mich damals geführt hatte. Er lebte tatsächlich noch, auch wenn Satinav nicht spurlos an ihm vorbei gegangen war. Sein Rücken schien mir gekrümmter, seine Haut faltiger und sein Schritt langsamer als damals – aber gut, wer konnte schon behaupten mit dem Alter gesünder und fitter zu werden? Also machten wir uns zu viert auf in den Dschungel. Für Nandurin ein echtes Abenteuer, nur Ulmjescha schien sich zwischen all den Bäumen nicht sonderlich wohl zu fühlen. Sie war ja ein echtes Stadtkind. Hier wurde mir bewusst, wie sehr mich die letzten Jahre geprägt und verändert hatten. Damals, vor meinem Abschluss, war auch mir dieser Gang in den Dschungel wie ein großes Abenteuer vorgekommen, eine Queste voller Gefahren und Ungewissheit, obwohl wir nur wenige Stunden zwischen Bäumen und Büschen verbrachten. Und heute? Ich hatte bei Brabak und den Jalob hinunter schon echten, unberührten Dschungel gesehen. Dagegen wirkte dieser nahe der Plantage wie ein mittelländisches Wäldchen. Unübersehbar das allgegenwärtige Werk von Händen, die das wuchernde Grün in Schach hielten. Die Stunden damals schienen mir wie eine endlose Zeit in der grünen Hölle. Mittlerweile hatte ich Dere von Praios bis Firun und Rahja bis Efferd durchwandert. Der Weg zu dem Zedernbaum, den wir tatsächlich wieder fanden, wirkte nun wie ein gemütlicher Spaziergang auf mich. Die Geräusche des Dschungels wirkten damals bedrohlich, unheimlich und gefahrvoll auf mich. Heute? Jetzt war ich der festen Überzeugung, dass ich weit und breit wohl das gefährlichste Wesen in diesem Dschungel war und sich alles andere vor mir zu fürchten hatte! Als wir schließlich vor dem Baum standen wusste ich gar nicht so recht, was ich eigentlich hier wollte. Es war… nun ja, ein Baum eben. Trotzdem erwies ich ihm als Spender meines Stabes Respekt und zeigte den Kindern den mittlerweile von Lianen überwucherten Aststumpf, von dem ich einst meinen Zauberstab genommen hatte. Irgendwann, vielleicht in 15 oder 16 Jahren, würde ich Nandurin ebenfalls hierherführen, wenn er soweit war seinen eigenen Stab zu formen. Ich war dem alten Sklaven dankbar und bot ihm, in einem Anflug von Sentimentalität, an ihn als späten Dank mit nach Al’Anfa zu nehmen, wo seine Arbeit in den Gärten meiner Eltern sicher leichter sein würde als hier auf der Plantage. Aber zu meiner Überraschung lehnte er ab. Er meinte, er würde die letzten Jahre seines Lebens zufrieden hier sein, solange nur seine letzten beiden Töchter bei ihm auf der Plantage bleiben konnten und er sie weiter sehen durfte. Die Bindung an das eigene Fleisch und Blut konnte ich nur zu gut verstehen. Wenn ihm das Frieden gab, wieso sollte ich ihn zu etwas anderem Zwingen, auch wenn es für seine Gesundheit sicher besser gewesen wäre? Ich nahm also wieder Abstand von dieser Idee, bis wir zurück auf der Plantage waren.

Die alte Vettel, die Nandurin eine Dämonenbrut geschimpft hatte, das nur am Rande erwähnt, heulte herum wie eine verlorene Seele und bettelte um Gnade bei Mutter, als ihr eröffnet wurde das wir sie nicht mehr mit zurücknehmen würden. Aber in solchen Dingen war meine Mutter härter als ein Stück geschmiedeter Stahl – wenn sie eine solche Entscheidung einmal getroffen hatte hätte es schon eines Wunders der mildtätigen Tsa bedurft um sie umzustimmen!

Ich machte mich also einen Tag früher als der Rest der Familie auf zurück nach Al’Anfa und nahm dafür die leichte, zweitspännige Kutsche die mich am Morgen in Richtung der Stadt fuhr um am Abend wieder zurück zu sein und der Familie am nächsten Tag erneut zur Verfügung zu stehen. Ich knuddelte Nandurin zum Abschied, auch wenn wir nur einen Tag getrennt sein würden. Auch von Ulmjescha verabschiedete ich mich mit einer Umarmung – Mutter kommentierte das mit einem Stirnrunzeln. Der Kleinen schien es gar nicht recht zu sein das ich nun ging. Was hatte sie wohl alles belauscht und gehört? Sie drückte sich an mich, wollte mich gar nicht gehen lassen und flüsterte in mein Ohr „Darf ich nicht mitkommen? Bitte?“ Aber das ging natürlich nicht. Nicht diesmal. Ich löste mich sanft von ihr, wuschelte durch ihr Haar und küsste sie zum Abschied auf die Stirn. „Das nächste Mal vielleicht, Ulmjescha. Du musst doch noch für mich auf Nandurin aufpassen.“  Ich hatte das Gefühl ihre traurigen Augen folgten mir die ganze Auffahrt hinunter, bis ich mit der Kutsche auf der Straße um eine Kurve herum verschwunden war. Zur dritten Stunde des Nachmittags erreichte ich dann unsere Villa und bereitete mich auf den Abend vor.

Zunächst sah ich nach dem Heiltrank, der mittlerweile gut durchgezogen war, und füllte ihn in ein Fläschchen ab. Den nächsten würde ich erst morgen ansetzen, dafür blieb mir heute zu wenig Zeit. Dann musste ich mich noch um ein Kostüm für heute Abend kümmern. Und das Tutorium an der Akademie hatte ich ja ebenfalls noch zu erfüllen. Es war also keine Zeit zu verlieren.

Ich wusste, dass meine Eltern aus ihren jüngeren Jahren auf dem Speicher eine Kiste mit Kostümen und Masken hatten, die dort vermutlich seit Jahren ungenutzt eingelagert waren. Ich hatte sie gefunden, als ich in meiner Kindheit mit Liliana Entdecker gespielt hatte, und die Hoffnung, dass sie nach wie vor am gleichen staubigen Platz stand wie früher. Mit einer Lampe gerüstet machte ich mich auf die Suche und wurde schon nach kurzer Zeit fündig. Als ich den knarrenden Deckel der Truhe anhob blickte ich auf die ordentlich zusammengelegten Exemplare früherer Abenteuer meiner Eltern. Vater musste einmal selbst recht schlank gewesen sein, wenn ich mir die Teile, die ich für männliche Kostüme hielt, so ansah. Ich grinste bei der Vorstellung, wie er heute versuchen sollte sich in eines davon hineinzuzwängen. Aber was nur nehmen? Ich hatte weder das Bedürfnis als schreiend bunter Paradiesvogel zu erscheinen, noch zu frivol mit einer Verkleidung, die danach schrie einem sofort vom Leib gerissen zu werden – was zu fortgeschrittener Stunde durchaus im Bereich des Möglichen lag, wenn man es zuließ. Der Grat zwischen Maskenball und beginnender Orgie konnte manchmal recht schmal sein, das hatte ich selbst schon erlebt – ein Grund mehr, dass ich nach Visaria sehen wollte! Am Ende entschied ich mich für eine, so hoffte ich zumindest, halbwegs akzeptable Kombination. Zu knöchelhohen, weichen braunen Lederschuhen nahm ich eine rot-weiß-gestreifte, knalleng sitzende Leinenhose, bei der ich das Gefühl hatte, sie würde mir den Hintern abschnüren. Meinen Oberkörper bedeckte ich mit einer nietenbesetzten, grünen Weste aus weichem Leder die mehr von meiner Brust zeigte, als dass sie sie bedeckte und wand mir eine breite purpurne Schärpe um die Hüfte. Hätte ich jetzt noch einen Säbel dazu getragen, ich wäre glatt als verwegener Korsar durchgegangen – oder zumindest das, was sich die gehobene Al’Anfaner Gesellschaft darunter vorstellte. Denn zur See wäre ein solcher Aufzug geradezu lächerlich erschienen und äußerst unpraktisch gewesen. Dazu nahm ich noch ein breites, silbernes Ohrgehänge, das vermutlich eher zu einem Kostüm von Mutter gehört hatte, aber zu meiner Vorstellung eines Piraten hervorragend passte und ein paar zu den Schuhen passender lederner Handschuhe, welche jedoch die Fingerspitzen freiließen. Die Handschuhe hätte ich gerne weggelassen, aber was nützte die beste Verkleidung, wenn jeder ohne weiteres das Gildensiegel in meiner Hand hätte sehen können? Zuletzt das wichtigste, die Maske. Denn ich wollte ja eigentlich nicht, dass mich jemand erkannte. Die Wahl fiel mir nicht leicht, ich hatte einfach keine Ahnung, welche Maske denn am passendsten für einen verwegenen Seeräuber wäre. Es gab das diese Geschichte von einem Piraten mit einer eisernen Maske, aber mich in so etwas hineinzuzwängen kam erstens nicht in Frage, und zweitens war auch nichts dergleichen in der Kiste zu finden. Ich entschied mich am Ende für eine fein gearbeitete Halbmaske die mit einem Gesicht über einer Muschel, vielleicht Efferd, sowie geflügelten Seepferden geschmückt war, die Nase bedeckte und bis zu den Wangen heruntergezogen war. Lediglich der Mund blieb frei, was aber auf solchen Festen üblich war, denn wie sollte man den sonst die feinen Häppchen genießen und den Wein trinken? Oben wurde die Maske gekrönt durch stolz aufstehende, schwarzgrün glänzende Federn, die dem ganzen etwas verrucht-exotisches verliehen. Ja, damit würde ich glaube ich ganz zufrieden sein können. Vorsichtig packte ich die Sachen zusammen und ging zurück in mein Zimmer.

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Auf dem Weg zur Akademie machte ich noch kurz halt bei der Schneiderin um meine neue Robe abzuholen, so viel Zeit blieb mir noch. Ich muss sagen, die Dame verstand ihr Handwerk. Sie hatte sich noch einige künstlerische Freiheiten genommen und die Schultern etwas breiter gemacht als ich es erwartet hätte. Der Kragen stand dafür bei weitem nicht so hoch wie ich anfangs dachte. Aber sie meinte nur, ich solle ihr vertrauen, das wäre die aktuelle Mode. Und wer war ich, einer Expertin da zu widersprechen? Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie nun anfangen würde die Falten abzustecken und noch nachnähen ließ. Aber die Robe saß auf Anhieb wie angegossen. Jetzt konnte ich nachvollziehen, warum meine Kollegen bereitwillig ihr Gold hierhertrugen. Ich war hier sicherlich ebenfalls nicht das letzte Mal Kunde. Die Meisterin schickte einen ihrer Sklaven mit meinem Paket direkt zu unserer Villa, während ich nun das letzte Stück Weges zur Universität ging. Ich war schon gespannt, wie viele neugierige Schüler ich heute zu erwarten hätte und freute mich bereits darauf, wieder jemandem Hesindes Geschenke weitergeben zu können. Ein fröhliches Lied pfeifend schlenderte ich die Treppen der Hallen der Weisheit hinauf und durch die Gänge.

Zu meiner Enttäuschung erwarteten mich jedoch keine wissbegierigen Kinder, sondern gar niemand. Ich überlegte kurz. Hatte ich mich im Tag geirrt? Nein, heute war definitiv Windstag. War ich zu früh? Auch das konnte ich nach wenigen Minuten verneinen, denn der Boronsrufer setzte gerade zu seiner Verkündung der siebten Stunde an. War ich beim letzten Male vielleicht ein so schlechter Lehrer gewesen, dass mich die Scholaren jetzt mieden? Das mochte und konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich würde wohl einfach noch ein wenig warten müssen, beschloss ich, und setzte mich auf eine der steinernen Bänke. Satinav lässt die Zeit ja quälend langsam vergehen, wenn man auf etwas wartet. Bereits nach kurzer Zeit hatte sich meiner eine innere Unruhe bemächtigt, die von Minute zu Minute zunahm. Ich kann nicht genau sagen wie lange ich gewartet hatte, vielleicht die halbe Zeit bis zum nächsten Boronsruf, als es mir zu dumm wurde ich mich erhob, um die Akademie wieder zu verlassen. Da hörte ich aus einem der Seitengänge ein leises rascheln und kurz darauf etwas, das sich wie ein verstohlenes „Psst, Psst“ anhörte. Meine Neugier war geweckt. Gemessenen Schrittes näherte ich mich dem Rundbogen, aus dem ich meinte das Geräusch gehört zu haben. In der Tat, bei Phex, ich hatte mich nicht getäuscht. Dort im Schatten einer Statute St. Argelions hatte sich eine kleine Gestalt mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze versteckt, der ich mich nun näherte.

Es war Alara die mich hier, sich furchtsam umblickend, erwartete. Verwundert sah ich sie an, als sie mich heranwinkte, ich solle ebenfalls in die Schatten treten. „Ich kann nicht lange bleiben,“ meinte sie hektisch. „Danke noch einmal für die Hilfe. Mein Bruder und ich haben den letzten Test bestanden. Aber wir können es nicht noch einmal wagen. Die Lehrer…“ sie schüttelte betrübt den Kopf. „Sie haben gesagt, wenn uns der Unterricht nicht gut genug ist, unser eigener Fleiß nicht ausreicht und Hesinde uns nicht so mit ihren Gaben gesegnet hat, dass wir solche Schummelei nötig hätten, dann hätten wir es wohl nicht verdient die Prüfungen zu bestehen. Es wäre ein unfairer Vorteil unseren Mitschülern gegenüber, sich so helfen zu lassen. Aber sie könnten da durchaus differenzieren, und ja auch einfach die Prüfungen etwas schwerer machen, als Ausgleich…“ Ich zog scharf die Luft ein. „Keiner von den Anderen traut sich mehr, heute herzukommen. Wenn einen irgendwer verpetzt, dann ist es fast sicher, dass er die nächste Prüfung nicht bestehen wird. Ich muss jetzt weg, ich wollte euch das nur sagen, aber mich darf niemand mit euch sehen. Es tut mir leid…“ Und damit verschwand sie wieder zurück in Richtung der Scholarenquartiere. Ich blieb erschüttert zurück und konnte mich vor Zorn kaum rühren. Als ich es schließlich schaffte und einen Fuß vor den anderen setzend dem Ausgang zustrebte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Natürlich, mich hatte der Magister nicht Mundtot bekommen. Also setzten diese missgünstigen Krähen nun am schwächsten Glied der Kette an. Oh, wie ich genau wusste, welches Spiel sie trieben! Anstatt sich mir zu stellen, setzten sie nun die Kinder unter Druck, diese Feiglinge. Ich kannte das von früher. Viele der Prüfungen waren keine schriftliche Examinatio, sondern wurden als mündliche Abfragen und Repetitorien gehalten. Und selbstverständlich lag die Korrektur und Bewertung beim zuständigen Magister – während schriftliche Prüfungen noch halbwegs objektiv nachvollzieh- und prüfbar waren, aber auch hier gab es genug Spielraum. Und bei den mündlichen Prüfungen, oft in der Gruppe gehalten, bekamen diejenigen Scholaren, die sich beim Magister lieb Kind gemacht oder deren Patrone den Geldbeutel weit genug geöffnet hatten die einfachen Fragen – der Rest konnte nur auf die Gnade und Laune des Dozenten hoffen, dass es nur nicht so schwer würde. Wie oft war ich selber einer der unglückseligen, die sich schwitzend an einer der komplexeren Fragen abmühen mussten, mit denen man vorher nicht gerechnet hatte, um sich dann anhören zu müssen „Warum weiß er das nicht, Pellisario, das steht im Herbarium Kuslikum auf Seite 84, in den Randvermerken. Hat er seine Hausaufgaben denn nicht ordentlich gelesen?“ Oh ja, ich kannte diese Willkür, mit denen sich die Damen und Herren Professoren – nicht alle, aber einige – einen schönen Zusatzverdienst schufen, indem sie die schwere der Prüfung vom Goldsäckel der Eltern und Patrone abhängig machten! Und da war manchmal auch der fleißigste Student machtlos dagegen. Ich war dermaßen zornig erregt, dass mir fast die Lust auf den anstehenden Maskenball vergangen wäre, wie ich durch die langsam dämmrigen Straßen der Stadt nach Hause ging. Man musste meine schlechte Laune deutlich in meinem Gesicht gesehen haben, denn die Leute gingen mir, dem Mann in der schwarzen Robe mit dem grantigen Gesicht, recht bereitwillig aus dem Weg und machten Platz. Ich wusste zwar noch nicht, was ich tun würde, aber auf sich sitzen lassen wollte ich das nicht. Das war ein Thema, das ich in jedem Fall übermorgen mit der Spektabilität erörtern musste. Was für eine Unverfrorenheit! Erst nach einem Becher Wein, den ich in meinem Zimmer hinunterstürzte, beruhigten sich meine Nerven langsam wieder.

Bedächtig legte ich das ausgewählte Kosarenkostüm an, setzte die Maske auf und betrachtete mich in einem polierten Messingspiegel. Es gefiel mir ziemlich gut und fühlte sich passend für den Anlass an – auch wenn ich mich in dieser Garderobe irgendwie seltsam fremd fühlte. Tatsächlich fielen mir nur zwei mögliche Gelegenheiten ein, abgesehen vom Nachtlager, zu denen ich freiwillig auf die Robe eines Magiers verzichtete. Die eine war hier in unserem Hause, wenn wir keine Gäste erwarteten. Dann gönnte ich mir den Luxus in bequemer, einfacher Kleidung durch die Zimmer zu streifen. Und die zweite Gelegenheit waren nun eben Maskenbälle. Welchen Sinn hätte es auch gemacht in meiner Robe dort zu erscheinen, wenn ich unerkannt bleiben wollte? Natürlich hätte ich vorgeben können, ich würde mich als Magier verkleiden. Aber ganz ehrlich, in meinen Augen wäre es ja dann keine Verkleidung! Und da ich nun solchermaßen inkognito war musste ich wohl oder übel auch meinen Zauberstab als Insignium meines Standes zurücklassen. Welcher Korsar wäre schon mit einem Wanderstock durch die Gegend gelaufen? Schweren Herzens legte ich den Stab aufs Bett. Aber es diente ja alles einem höheren Zweck. Und im Gegensatz zu manch anderem Kollegen war ich zum Wirken von Zaubern glücklicherweise auch nicht darauf angewiesen den Stab beim Ausüben meiner Kunst in den Händen zu halten. Man halte mich bitte nicht für Eitel, aber zuletzt legte ich noch ein wenig nach Jasmin duftendes Öl an und Wangenrot auf, das man zwar bei meiner Hautfarbe kaum sah, jedoch meinen Teint noch einmal etwas veränderte, wenn man genau hinsah. Kurz überlegte ich, ob ich als „Pirat“ zumindest den Dolch gürten sollte. Aber ich hatte weder die Fähigkeiten noch die Absicht mich in eine Messerstecherei verwickeln zu lassen, also ließ ich auch die Klinge zuhause. Das einzige, dessen ich mir nun sicher war ist, dass selbst Mutter mich in diesem Aufzug vermutlich nicht sofort erkannt hätte. Die Einladung mit dem Wappen der Familie Kugres darauf hatte ich wie von Maester Lucio versprochen auf meiner Anrichte gefunden und steckte sie sorgfältig ein. Das war der Nachteil wenn man nicht erkannt werden konnte, persönlich bekannt war oder erwartet wurde – man musste sich ausweisen können um Zutritt zu erlangen.

Die Diener hatten mittlerweile die kleine Sänfte für mich bereit gemacht und zwei der Wächter unseres Anwesens würden mich begleiten. Im Gegensatz zu tagsüber und in Robe, wo ich mich durchaus nicht scheute auch einmal zu Fuß und allein durch die Stadt zu streifen, lag die Sache jetzt völlig anders. In diesem Aufzug allein durch die Stadt zu stolzieren wäre sogar grob Fahrlässig und eine Einladung an jegliches üble Gesindel, einen als leichte Beute zu betrachten. Nicht das ich vor dem Gesindel Angst gehabt hätte. Aber die damit verbundene Unannehmlichkeit, vielleicht sogar mit derangiertem Kostüm anzukommen oder gar Schlimmeres musste nun wirklich nicht sein. Als ich zuletzt die Maske anlegte und in die Sänfte stieg wurde ich von Victor dem weisen Magier, auch gefühlt, zu Dimitrios dem verwegenen Korsaren. Dabei musste ich an Deveca denken und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Was der wohl von meinem Aufzug gehalten hätte? Vermutlich hätte er sich vor Lachen auf den Planken seines Schiffs gerollt und eingenässt. Aber ich ging ja auf einen Maskenball und nicht auf Kaperfahrt. Trotzdem, eine nervöse Vorfreude hatte mich erfasst und ließ mich nun die finsteren Gedanken, die mich noch ein Stundenglas zuvor beschäftigt hatten, vergessen.

Die Villa Kugres lag oben auf dem Silberberg und ich musste mich sowohl an der Brücke und am Tor zum Berg, als auch am Eingang des Anwesens jeweils ausweisen und meine Einladung sowie mein Gildensiegel vorzeigen. Die Granden blieben eben gern unter sich und wollten das einfache Volk nun einmal nicht bei sich auf dem Berg haben. Mit der Familie Kugres hatte ich bisher nicht viel zu schaffen gehabt und sonderlich oft war ich auch noch gar nicht auf dem Silberberg gewesen, wenn ich so daran dachte. Selbst die Granden machten Geschäfte mit meiner Familie, wenn überhaupt, nicht in ihren Wohnzimmern, sondern eher in der Börse, in der Halle des Handels oder wenn es etwas informeller war im Hinterzimmer eines Gasthauses. Daher wurde mir erst jetzt bewusst, dass die Villa der Kugres direkt schräg gegenüber des Ulfhartschen Anwesens lag. Visaria hatte zumindest keinen weiten Weg gehabt, wie ich lächelnd feststellen musste. Als man mich durch das Tor der umlaufenden Mauer einließ hörte ich von der prächtigen Marmorvilla bereits das laute, ausgelassene Lachen und die Musik der Gesellschaft nach außen dringen. Die Feier schien schon ordentlich im Gange zu sein. Auf dem Hof standen bereits mindestens drei Dutzend Sänften und Kutschen, die Träger und Wächter standen beieinander und unterhielten sich, wohlwissend, dass es noch Stunden dauern mochte, bis ihre Dienste wieder benötigt würden. Gleich würde es ernst werden. Ich verdrängte die nervöse Vorfreude und versuchte angesichts dessen was mich hier erwarten mochte genauso gelassen zu bleiben, als würde ich mich den Heptsphärischen Stellen – wobei die auch oftmals nicht schlimmer waren als so manche arrogante Grandessa. Am ehesten würde der vergleich passen, dass ich nun dabei war in einem Becken voll Piranhas schwimmen zu gehen. Und ich sollte sie tunlichst kein Blut riechen lassen. Hatte ich etwas vergessen? Ich sah noch einmal an mir herab. Nein. Alles wie es sein sollte. Dann erinnerte ich mich an einen Ausspruch meines Vaters, den er oft zitierte, wenn er sich mit einem neuen Handelspartner traf. „Victor,“ pflegte er zu sagen. „du kannst auf einen Handelsabschluss noch so gut vorbereitet sein – wenn dich dein Gegenüber nicht mag, hast du es ungleich schwerer. Der erste Eindruck ist es, der zählt!“ Dessen eingedenk legte ich mir beide Hände auf die Wangen bevor ich die Maske aufzog, sammelte meine Konzentration und wirkte einen spontanen Attributo um meiner Ausstrahlung noch eine vorübergehende Aufwertung angedeihen zu lassen. Nicht das ich so etwas eigentlich nötig gehabt hätte, aber sicher ist sicher…

Im Foyer der Villa musste ich noch ein letztes Mal bei einem Majordomus der von zwei kräftigen Eunuchen flankiert wurde meine Einladung vorzeigen bevor er mich mit einer respektvollen Verbeugung in Richtung der Halle des Hauses wies. Natürlich, im Gegensatz zu so manch anderem Fest dem ich schon beigewohnt hatte, wurde man hier nicht vom Ausrufer mit Namen angekündigt. Das würde ja den ganzen Sinn einer Maskerade konterkarieren. Außerdem war ich mir sicher, dass sich die meisten hier, egal wie gut sie sich verkleideten oder geschminkt hatten ohnehin kannten und gegenseitig erkennen würden. So groß war die gehobene Gesellschaft Al’Anfas dann auch wieder nicht, dass man denjenigen nicht erkennen würde, mit dem man vielleicht eine Woche vorher auf einem Ball sowohl Masken als auch – unter Umständen - Hemmungen hatten fallen lassen. Mein Vorteil war also, dass mich kaum jemand erkennen dürfte. Mein Nachteil dafür, dass ich im Gegenzug natürlich auch niemand so einfach erkennen würde. Selbst Visaria zu finden würde ich mich anstrengen müssen. Hier konnte ich nur nach dem Ausschlussprinzip vorgehen um mir die Suche zu erleichtern. Die männliche Hälfte der Anwesenden konnte ich noch recht einfach ausfiltern. Wenn ich nun noch die älteren Damen abzog, soweit man das Alter unter den Masken erahnen konnte, wurden es noch weniger. Bei den Frauen achtete ich daher auch eher auf die Haut und die Hände, anstatt zu versuchen in den verdeckten und geschminkten Gesichtern etwas zu erkennen. Alle Frauen die über mehr als eine sehr zierliche Figur verfügten konnte ich ebenfalls ausschließen und besonders groß war Visaria mit ihren vierzehn Götterläufen ja auch nicht. Dummerweise traf diese Beschreibung trotzdem noch auf etliche der anwesenden Damen zu. Und dass man die Dienerinnen und Sklavinnen, von denen fast alle jung und hübsch zu sein schienen, für den Ball ebenfalls maskiert und ausstaffiert hatte, machte es noch einmal nicht leichter. Also versuchte ich in dem Dämmerlicht, das eine verruchte Atmosphäre schaffte, nach Visarias heller Haut Ausschau zu halten, denn die würde sie von fast allen Bediensteten unterscheiden, da war ich mir zumindest sicher. Mit diesen Gedanken begann ich durch die ausgelassene Festgesellschaft zu gleiten wie ein Boronskuttentaucher durch das Wasser.

Bereits nach einem Dutzend Schritt in die Halle hinein verfluchte ich mich innerlich. Nicht wegen meines Kostüms, das passte hervorragend. Ich war bei weitem nicht der einzige Korsar/Pirat/Freibeuter der herumstreifte, auch wenn die anderen Verkleidungen oft besser und aufwändiger wirkten als die meine. Nein, ich wünschte jetzt einfach, ich hätte besser gar keinen ersten Eindruck erweckt und wäre unbemerkt durch die anderen Gäste gegangen, anstatt Aufmerksamkeit zu erregen. Und da war der gerade eben gewirkte Attributo zugegebenermaßen äußerst kontraproduktiv. Freundlich lächelnd und mir fremde Menschen grüßend, die sich mir zuwandten, schob ich mich zwischen den Feiernden hindurch. Und Dämon noch eins, es drehten sich viel mehr von ihnen in meine Richtung, als es mir lieb gewesen wäre, kaum dass ich an sie heran oder an ihnen vorbei trat. Manche starrten mich ganz offen, ja regelrecht lüstern, an, während ein paar zumindest den Anstand hatten mich nur aus den Augenwinkeln zu verfolgen oder den Fächer vorzulegen. Und das waren nicht nur die Frauen! Ich fühlte mich, als würde eine Kolonie Termiten über meine Haut laufen. Mehr als einmal musste ich mich mit einer dezenten Drehung vor Händen hüten, die sich „zufällig“ an meiner Garderobe verhaken wollten um mich festzuhalten. Je tiefer ich in diesen Sumpf vordrang, umso schwieriger wurde dies. Es war fast wie ein ungewollter Tanz. Mehr als einmal schaffte ich es nicht, wurde unangemessen nahe an jemand herangezogen bevor ich es schaffte mich lächelnd mit einem angedeuteten Kuss in die Luft wieder zu lösen und weiterzustreben. Natürlich wurde hier niemand – zumindest auf offener Fläche – gegen seinen Willen irgendwohin oder zu irgendjemand herangezwungen. So Betrunken waren die Feiernden – zumindest noch – nicht. Immer wieder stahl sich eine weiche Hand unter meine offene Weste und strich mir lockend über Brust oder Bauch, was es mir nicht gerade leichter machte mich zu konzentrieren. Und öfter als einmal spürte ich, wie mir jemand neckisch ins Gesäß kniff. Ich kam mir vor wie eine Schankmagd in der billigsten Hafenkaschemme, bei Rahja! Nein, das war wahrlich keine gute Idee gewesen. Vielleicht sollte ich mich besser bis die Wirkung des Zaubers nachließ doch eher in eines der Separees, auf die Galerie oder den Balkon zurückziehen. Andererseits war das vielleicht noch gefährlicher, wenn mich dort jemand in scheinbarer Einsamkeit antraf und auf dumme Gedanken kommen mochte. Die Krone setzte dem Ganzen ein Gesprächsfetzen auf den ich aufschnappte, als ich an zwei Damen in bunten Federn vorbeikam die sich mit einem ganz in weißer Seide gehüllten Mann unterhielten und mir hinterhersahen, als ich an ihnen vorbei ging. „Da hat der alte Kugres aber ein ausgesucht schnuckeliges Exemplar auf dem Markt ausgesucht für heute Abend. Was denkt ihr, in wessen Kissen wir den Süßen nachher finden werden? Ich hätte ja nichts dagegen mir von dem Sahneschnittchen ebenfalls ein Stück zu gönnen…“ Und dann lachten die drei, wie nur echte Silberberger es konnten. Die hielten mich tatsächlich für einen der extra herbeigeschafften Lustknaben! Das mochte daran liegen, dass mein Kostüm vielleicht nicht ganz dem Standard der neuesten Mode entsprach, meiner Hautfarbe oder woran auch immer. Ich wusste es nicht. Aber es traf mich dennoch. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und die drei über ihren Irrtum aufgeklärt. Aber was hätte es mir gebracht? Außer vermutlich, dass mich die Damen dann erst recht in ein Gespräch verstrickt und vermutlich früher oder später in eine der abgehängten Nischen gezerrt hätten! Bei den Göttern, was war los mit mir? Noch vor kurzem hätte ich mich über eine solche Gelegenheit gefreut und einfach mitgespielt. Hatte ich nicht vor grade mal einem halben Jahr noch versucht Surina und Pamina zu einer Orgie, wenn auch im Rahjatempel, zu überreden? Und jetzt schreckte mich der Gedanke, mich solcherart von meinem Ziel ablenken zu lassen. Ich schüttelte den Kopf um wieder einen klaren Geist zu bekommen und nahm einer vorbeilaufenden Dienerin einen Pokal mit prickelndem Bosparaner vom Tablett.

Dann sah ich das erste Mal jemanden den ich zu kennen meinte. Da ich mir im Dämmerlicht meiner Augen nicht gänzlich sicher war betrachtete ich die schlanke junge Frau etwas genauer, wenn auch aus der Distanz von vielleicht einem halben Dutzend Schritt. Sie bewegte sich geschmeidig, keine Frage. Die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare mit einem goldenen Diadem hochgesteckt und zu kunstvollen Locken gelegt. Die Haut hatte einen rötlichen Kupferton der im Kerzenlicht auffällig glitzerte, vermutlich noch mit Bronzestaub verstärkt. Was ihr Kostüm darstellen sollte erschloss sich mir nicht sofort. Vielleicht sollte es eine zyklopäische Tracht imitieren, auch wenn die helle Tunika dafür auffallend kurz geschnitten war und sowohl vorne als auch am Rücken nicht viel Stoff aufwies. Dafür war die Maske ein faszinierendes Stück, das im Wesentlichen aus zwei Pfauenfedern bestand deren Mitte ausgespart worden war, so dass dort wo sich eigentlich das „Pfauenauge“ wäre nun ihre Augen dunkel hinter der Vertiefung glitzerten, umrahmt vom irisierenden Grün und Blau der Feder. Ein raffinierter Effekt. Ich war mir ziemlich sicher, dass dies die junge Florinna Ugonez-Paligan sein musste. Nur ihren schwitzigen Begleiter konnte ich nicht ausmachen. Sie befand sich gerade beim Schäkern mit einem etwas älteren Herren, nun, vermutlich so alt auch wieder nicht, soweit man das mit der Maske beurteilen konnte, vielleicht 30 oder etwas mehr Götterläufe. Man sagt ja oft, man hätte das Gefühl beobachtet zu werden. So muss es wohl auch ihr ergangen sein, denn sie ließ während des Gesprächs nun den Blick über den Saal schweifen und ich schaffte es nicht - Rahja vergib mir – rechtzeitig den Blick von ihrer durchaus gefälligen Gestalt abzuwenden, so dass sich unsere Blicke trafen. Kurz zeigte sich einen etwas verwirrter Gesichtsausdruck auf ihrem hübschen, halb bedeckten Gesicht, dann leckte sie sich die sinnlichen Lippen und ein entschlossener Ausdruck legte sich um ihren Mund. Ich glaubte nicht, dass sie mich erkannt hatte. Da war nun eher er ein recht animalischer Ausdruck in ihren Augen. An der Art wie sie sich freundlich aber bestimmt von ihrem Gesprächspartner löste und sich in meine Richtung wandte konnte ich es deutlich erkennen. Sie hatte die Jagd eröffnet. Auf mich!

Ich fluchte leise das ich so langsam reagiert hatte und tauchte zwischen den übrigen Gästen unter. Wie ein Boronskuttentaucher der im Wasser verschwand – nur das diesmal im übertragenen Sinne ein weißer Ifirnshai hinter mir her war! Wieder glich mein Weg durch den Saal, ich strebte jetzt der gegenüberliegenden Treppe mit der Galerie zu, einem Spießrutenlauf. Zum Namenlosen mit dem Verkleiden, das nächste Mal würde ich doch eine Robe tragen! Ich wusste zwar nicht, ob sie mir wirklich auf den Fersen war, da ich hoffte sie hätte nicht mitbekommen in welche Richtung ich mich gewandt hatte, aber allein das Gefühl verfolgt zu werden ging mir schon auf die Nerven. Ich wollte doch einfach nur Visaria finden! Im letzten Augenblick drehte ich ab und ging an der Wand entlang anstatt der Treppe zur Galerie hinauf, da mir gerade noch rechtzeitig die Erkenntnis gekommen war, das ich auf dem Weg hinauf zwar selbst einen guten Ausblick in den Saal gehabt hätte, aber von unten natürlich genauso gut zu sehen war. Im Vorbeigehen schnappte ich mir von einer Dienerin im Katzenkostüm ein frisches Glas Bosparaner und ein kleines Pastetenhäppchen. Ich ging nun zwischen den beiden Treppen unterhalb der Galerie entlang wo eine große, offene Tür hinaus auf die Terrasse führte. Aus den Augenwinkeln sah ich eine geschmeidige Gestalt in kurzem, weißen Röckchen die Treppe hinaufsteigen. Verdammt! Dumm war diese Florinna auf jeden Fall nicht. Natürlich würde sie jetzt im Gegenzug versuchen, sich einen Überblick von dort zu verschaffen. Wenn sie erst auf der Galerie angekommen war wäre es mir fast unmöglich mich frei durch den Saal zu bewegen. Ich verschwand zur Sicherheit erst einmal hinter einer der großen Palmen die in marmornen Töpfen an der Wand entlang standen. Jetzt erst merkte ich, dass sich mein Herzschlag merklich beschleunigt hatte und ich trank den Bosparaner auf einen Zug aus um mich zu beruhigen. Dann wartete ich noch kurz, bis ich der Meinung war, dass sie nun auf der Galerie direkt über mir sein müsste und mich daher direkt darunter nicht mehr sehen dürfte, bevor ich vorsichtig meinen Weg fortsetzte.

Auf einem großen, fast thronartigen Stuhl neben der Tür zum Garten saß ein älterer Mann mit schütter werdendem weißem Haar und braunen Augen, der die Festgesellschaft mit wachem Blick beobachtete. Zwei Sklaven standen mit Fächern an seiner Seite und wedelten ihm die kühl hereinwehende Nachtluft zu. Ich hätte den Alten auf vielleicht 80 Sommer geschätzt, und dennoch hielt er sich eisern aufrecht auf seinem Stuhl. Als ich an ihm vorbei ging und ihn respektvoll grüßte, allein seine Präsenz schien dies angemessen erscheinen, er war der einzige der hier keine Maske trug, durchlief mich ein Schauer. Ein eiskalter Schauer, der sich langsam meinen Rücken hinauf und wieder hinunter arbeitete als mich seine Augen fixierten. Ein kaltes Lächeln lag auf seinem Gesicht, das seine Augen jedoch nicht erreichte. Und in diesen Augen stand etwas, das mich an ungestillte, blanke Gier denken ließ. Nicht im körperlichen Sinne, eher so, als würde er sich überlegen, wie hoch wohl mein Preis sein und was er für mich bekommen könnte. Ich schüttelte mich und trat in die laue Nachtluft hinaus, mir des bohrenden Blicks in meinem Rücken nur zu bewusst. Später erfuhr ich von Vater, dass es sich dabei wohl um Salix Kugres, den Patriarchen des Hauses, selbst gehandelt hatte. Einer der skrupellosesten aber erfolgreichsten Sklavenhändler, den die schwarze Perle je gesehen hatte. Das erklärte wohl mein Gefühl im Nachhinein. Vor einem Mann in hautengem, bunt eingefärbtem Schlangenleder blieb ich stehen, der etwas nach oben rief. Ich hob den Kopf und wurde des Balkons über mir gewahr. Natürlich, so wie man hier unten auf die Terrasse kam würde man dort oben von der Galerie auch auf einen Balkon hinauskönnen. Ich knirschte mit den Zähnen. Spähte meine Häscherin dort oben nun in den Saal hinunter oder in den Garten hinaus? Ich saß quasi in der Falle! Aber es half nichts, in eine der beiden Richtungen würde ich gehen müssen, wenn ich Visaria finden und nicht wie ein Hase im Bau gefangen sein wollte.

Ich wandte mich mit einem gewinnenden Lächeln an den Schlangenmann und fragte schmeichelnd „Sag, Freund, du siehst da oben nicht zufällig ein Mädchen in kurzer weißer Tunika mit Pfauenfedern vor den Augen? Ich befürchte, ich habe meine Tanzpartnerin einen Moment zu lang aus den Augen gelassen und sehe unter dieser Maske nicht besonders gut…“ Die Antwort kam prompt, die Stimme schon etwas schwer vom Wein und Rauschkraut. „Na du bist aber ein Süßer.“ Dabei musterte er mich einmal von oben bis unten und legte mir eine Hand auf die Schulter, was ich ruhig hinnahm. Dann machte er ein paar wankende Schritte weg von mir, sah hinauf und nickte mir zu. „Ja, deine Freundin ist da oben und schaut ganz verloren und suchend. Warte, ich rufe sie dir schnell herunter.“ Noch ehe er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte zog ich ihn wieder unter den Balkon und legte ihm den Finger auf die Lippen. „Pst, nicht schreien. Ich werde sie da oben überraschen und einfangen wie einen Schmetterling mit dem Netz. Sie kann ja nicht weg von da, ohne die Treppe zu nehmen. Sie wird mir nicht entkommen. Danke Dir, mein Freund.“ Ich drückte ihm zum Abschied noch kameradschaftlich den Arm, dann strebte ich wieder nach Innen. Wenn Florinna nach außen spähte hätte ich zumindest eine kleine Chance ungesehen durch den Saal zu kommen. Eilig machte ich mich auf. Langsam müsste dieser dämliche Zauber doch nachlassen!

Aber noch war es anscheinend nicht soweit. Ich hatte auch kein Stundenglas gesehen, an dem ich es hätte abschätzen können. Als ich wieder in die Menge eintauchte, die gefühlt noch einmal enger geworden war, anscheinend waren noch weitere Gäste hinzugekommen, ging der Tanz von neuem los. Und ich meinte es diesmal wörtlich, denn ich versuchte meine Schritte im Rhythmus der Musik zu setzen und meinen Körper ausweichend so zu wiegen, dass mich wenigstens nicht zu viele grabschende Hände erhaschten. Was mir zwar meist, aber bei weitem nicht immer gelang. Dazu war die Menge an Menschen mittlerweile zu dicht, stand manchmal in engen Trauben beieinander, durch die kaum ein Durchkommen war, so dass ich meinen Weg außen herum suchen musste. Ein älterer Kerl der mir wage bekannt vorkam, ohne dass ich hätte sagen können woher, fasst mir sogar frivol in den Schritt bevor ich ausweichen konnte. Überall sonst hätte ich nun entrüstet protestiert. Aber bei solchen Veranstaltungen wäre ich dadurch nur noch mehr aufgefallen. Ich schob die Hand lediglich freundlich zur Seite, sowas konnte einfach schon einmal passieren bei einem Maskenball, da durfte man nicht zu prüde sein. Vermutlich einer der Gründe, warum die meisten Mittelreicher nur ein einziges Mal zu solchen Festen kamen. Ich zwängte mich gerade zwischen zwei besonders dichten Gesprächsgruppen hindurch, als mich eine schmale Hand mit festem Griff am Unterarm fasste und herumzog. Dieser Überfall kam dermaßen schnell und überraschend, ich hatte ihn überhaupt nicht kommen sehen. Der Griff erinnerte mich an eine Würgeschlange, fest und bestimmt, nicht wie die bisherigen spielerischen Angriffe, derer ich mich erwehrt hatte. Hier war jemand, der wusste was er wollte – und er oder sie schien mehr zu wollen. Keinen halben Spann vor mir stand eine mädchenhaft-schlanke Dame in einem glitzernden und mit zahllosen Steinen besetzten Kleid. Erst auf den zweiten, naja, dritten Blick, sah ich an den leichten hellgrauen Strähnen ihres Haares, dass sie wohl nicht mehr so jung war, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte. „Junger Mann, ihr scheint mir bedauerlicherweise sehr einsam, ihr irrt ja herum wie ein verlaufener Welpe. Ich habe euch schon eine ganze Zeit beobachtet. Was haltet ihr davon mir ein wenig Gesellschaft zu leisten, ihr süßes Bürschchen. Ich habe da hinten eine Liege gesehen, die sich hervorragend für uns beide eignen würden.“ Ich schluckte schwer. Der Griff ihrer Hand um meinen Arm hatte sich kein Stück gelockert während sie noch etwas näher an mich herangerückt war und nun ihre Brüste gegen mich drückte. Diese Frau wusste was sie wollte, und sie war es anscheinend gewohnt zu bekommen, was wie wollte. Vermutlich wäre es leichter gewesen aus einer Bärenfalle zu entkommen als sich ihr zu entwinden. Ich sah ihre Augen hinter der leichten roten Ledermaske die sie trug. Dunkelbraun mit einem funkeln das ihren eisernen Willen andeutete. Ich kam mir wie eine Sardine vor einem Haimaul vor. In diesem Augenblick traf es mich mit der Wucht einer 6er Ferrara, die mich überrollte. Dieses Gefühl hatte ich neulich schon einmal gehabt. Diese kalten Augen die mehr zu wissen schienen als man vermutete. Diese befehlsgewohnte Stimme, die einem keinen Ausweg aus den Vorschlägen die sie machte ließ. Die es nicht nötig hatte etwas zu Befehlen und trotzdem immer ihren Willen bekam. Ich keuchte erschrocken auf. „Tsaiane Ulfhart, seid ihr das?“ Damit hatte sie anscheinend am wenigsten gerechnet, ein verwirrter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, auch wenn sich ihr Griff nicht lockerte. „Und selbst wenn ich es wäre, was würde das bedeuten?“ fragte sie, diesmal nicht ganz so forsch wie gerade eben noch. Wir standen so nah beisammen, dass es für jeden umstehenden Betrachter aussehen musste als würden wir uns wie ein Liebespaar aneinanderschmiegen, was auf einem solchen Fest nichts Besonderes war, selbst wenn uns jemand beachtet hätte. Einen kurzen Augenblick hob ich mit meiner freien Hand die Maske von meinem Gesicht. Als hätte sie sich die Hand verbrannt ließ sie meinen Arm los, auch wenn sie sich wegen der Umstehenden kaum weit von mir lösen konnte. „Du?“ Das erschrockene Erkennen war selbst unter ihrer Maske zu sehen. Ich schob meinen Kopf etwas nach vorne und flüsterte ihr zu. „Bitte, ich bin doch nur auf der Suche nach Visaria. Ihr wisst nicht zufällig wo ich sie finden kann?“ Eines musste ich der Dame Ulfhart lassen, sie hatte sich erstaunlich schnell wieder im Griff und ließ nun auch meinen Arm los. „Wer hätte gedacht, dass das Stück Schokolade an dem alle meine Freundinnen den ganzen Abend schon lutschen wollten mein zukünftiger Schwiegersohn ist…“ Bei diesen Worten schoss mir die Röte dann doch in die Wangen. „Das wäre fast noch interessant geworden… immerhin seid ihr beiden ja noch nicht im Traviabund. Aber sei es drum…“ ich meinte so etwas wie eine leichte Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören. „Zuletzt habe ich Visaria dort hinten,“ dabei deutete sie mit der Hand in Richtung des Buffets bei den Rundbögen, „mit einem aranischen Gesandten gesehen. Wenn du nicht zu sehr trödelst könntest du sie noch finden.“ Dann wand sie sich wieder ihren Gesprächspartnern zu, die uns nun neugierig betrachteten und gab mir noch einen kräftigen Klaps auf den Hintern, mit dem sie mich fortschickte und fröhlich etwas zu ihren Begleitern sagte. Ich meinte so etwas zu hören wie „Dieser Welpe ist wohl doch etwas zu jung für mich,“ worauf ihr schallendes Gelächter Antwortete. Mir brannten die Ohren, als ich mich davonmachte, diesmal weniger tänzelnd, sondern zielgerichtet in die gewiesene Richtung gehend. Ich spürte, endlich, endlich, wie die Wirkung des Zaubers zu verblassen begann.

Dann endlich fand ich sie, meine süße Visaria. Sie trug ein bezauberndes Kostüm, so wie ich mir eine novadische Tänzerin vorstellen würde. Luftige Seidenschleier waren um ihren Oberkörper und ihre Hüften gewunden, ein weiterer bedeckte ihr Gesicht, so dass man nur ihre blitzenden dunklen Augen sah. In die Haare hatte sie silbernes Garn gewoben, so dass es bei jeder Bewegung ihres schlanken Halses glänzte. Eine schillernde Kette aus Silber mit zahlreichen bunten Steinen lag um ihre Hüfte und betonte bei jedem wiegenden Schritt ihre schlanke Figur. Um Arme und Knöchel wanden sich klingelnde Glöckchen und ihre zarten Füße steckten in perlenbestickten Samtpantoffeln. Schöner als so hätte sie mir selbst in meinen kühnsten Träumen nicht erscheinen können. Ihr gegenüber stand ein Mann von dreißig oder vierzig Götterläufen, das war schwer zu sagen. Er hatte einen schwarzen, spitz geölten Bart, geflochtenes Haar und eine Tracht, die mich an die bunten Kleider der Maraskaner erinnerte. Passend dazu hatte er sein Gesicht hinter einer bunt lackierten, hölzernen Maske versteckt die ebenfalls mit maraskanischen Ornamenten verziert war. Während Visaria gerade mit einem ihrer hellen Lachen auf etwas reagierte, dass er anscheinend gesagt hatte und spielerisch die Hand gegen seine Brust stieß, konnte ich genau sehen, dass er sie mit gierigem Blick am liebsten entkleidet hätte. Was ich gut nachvollziehen konnte, das hätte ich am liebsten selbst getan! Aber bei mir war das ja etwas gänzlich anderes! In jedem Fall musste ich hier umgehend einschreiten! Mich so hinter ihr haltend das sie mich unmöglich bemerken konnte näherte ich mich den beiden. Als er einmal aufsah, was lang genug dauerte, weil er seine Augen kaum von Visaria lösen konnte, fing ich den Blick des Araniers ein und legte mit der Andeutung von Schweigen meinen Finger auf meine Lippen, bis ich den Eindruck hatte, dass er verstanden hatte. Den Blickkontakt mit ihm haltend, damit er keinen Unfug machen würde, überwand ich die letzten beiden Schritte hinüber zu Visaria bevor sie bemerken konnte, dass sich etwas verändert hatte und der Aranier die Gelegenheit hatte einen Protest zu formulieren.

Ich stellte mich nah hinter sie, ihr Orchideenduft, aber ein anderer als der den sie für mich gekauft hatte, stieg mir in die Nase und betörte meine Sinne. Ich legte ihr sacht wie Vögelchen meine beiden Hände auf die nackten Schultern, beugte mich vor und flüsterte ihr gerade so laut das nur sie es über die Musik hinweg hören konnte ins Ohr. „Junge Dame, was glaubt ihr, was Euer Verlobter dazu sagen würde, wenn er Euch so hier sehen würde.“ Sie zuckte erschrocken zusammen. Natürlich, dies war ein Geheimnis zwischen unseren Familien, das mit Sicherheit noch niemand erfahren hatte. Al’Anfa war zwar ein Pfuhl von Klatsch und Tratsch, aber wenn so etwas ausgehandelt und unter dem Mantel der Verschwiegenheit vereinbart wurde, dann blieb es auch Geheim. Niemand der Wert auf seine Zunge legte, würde sich hier zu früh etwas verraten trauen! Mit echter Panik in den Augen drehte sie sich zu mir um. „Woher wisst ihr… wer…“ ihre Stimme hatte einen hohen zitternden Ton angenommen. Da war ich wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich hatte nicht vorgehabt ihr einen Schreck einzujagen. Der Aranier meinte nun doch sich einmischen zu müssen und wollte gerade nach mir greifen, als ich einen Schritt zurück machte. „Hattet ihr mich nicht aufgefordert, nicht wieder einen halben Götterlauf fern zu bleiben, verehrteste Dame? Nun habe ich mich geeilt zurückzukehren, und da bin ich, ganz wie ihr befohlen habt.“ Verwirrung löste den Schreck auf ihren lieblichen Zügen ab, nun musterte sie mich eindringlich. Man muss zugeben, so oft sahen wir uns ja nicht wirklich. Und sie hatte mich bisher noch nie anders als in meiner Magierrobe gesehen, da mochte dieser Aufzug doppelt verwirrend wirken. „Euer Duft ist betörend wie immer, Teuerste, aber heute fehlt dem blumigen die frische Citrusnote, die ihn sonst so besonders macht…“ Mit einem hohen Kiecksen schlug sie die Hand vor den Mund und aus der Verwirrung wurde erst Erkennen und dann eine strahlende Freude. Mit einem Freudenschrei fiel sie mir um den Hals und ich schloss meine Arme um ihren zarten Körper. Dabei meinte ich einen Hauch von Wein in ihrem Atem zu riechen. „Du bist ein ganz furchtbarer Kerl, mir so einen üblen Streich zu spielen!“ lachte sie mich nun an und es war diesmal an dem Aranier einen Schritt zurück zu treten, da sich die Situation offensichtlich gerade drastisch geändert hatte. Sie drehte sich ihrem bis eben noch Begleiter zu, warf ihm ihr bestes Lächeln entgegen und meinte nur „Ihr müsst uns entschuldigen, ich habe eine dringende Angelegenheit mit einem alten Freund zu klären.“ Dann packte sie meine Hand und zog mich entschlossen in Richtung der Terrasse davon.

Auf dem Weg hinaus hatte ich wieder dieses seltsame Gefühl als wir den alten Mann auf seinem Stuhl passieren mussten, aber nun war es mir völlig egal. Und wenn da ein leibhaftiger Dämon gesessen wäre, es hätte mich nicht mehr interessiert. Ich hatte es endlich geschafft meine Liebe zu finden, das war das Einzige was zählte! Auf dem Weg hinaus schaffte ich es noch einer Dienerin zwei geköpfte Kokosnüsse abzunehmen die mit einer cremigen, süßlich riechenden Flüssigkeit gefüllt waren, bevor wir in dem weitläufigen Park verschwanden. Büsche und Bäume waren mit zahlreichen bunten Lampen und Lichtern geschmückt, so dass selbst ich keine größeren Probleme hatte mich zurecht zu finden. Hier draußen war es auch deutlich ruhiger als im Ballsaal. Die Musik war nur noch ein zartes klingen im Hintergrund und die eben noch lauten Gespräche, über die hinweg man sich mühsam verständigen musste, waren nur noch ein Rauschen von Stimmen. Leider waren wir nicht die einzigen, die es in den Garten und die frische Luft hinausgezogen hatte. Das wir uns hier in trauter Zweisamkeit befunden hätten wäre übertrieben zu behaupten gewesen. Zahlreiche andere Gäste spazierten zu zweit oder in Gruppen durch den parkähnlichen Garten. Auch das ein oder andere Pärchen hatte sich schon in die Lauben und Schatten der Büsche zurückgezogen, ungeachtet der vorbeiflanierenden Passanten. Und doch hatten wir das erste Mal überhaupt so etwas wie eine Zeit, die nur uns gehörte. Ohne dass jemand uns beobachtete oder darüber wachte, dass wir auch ja nichts Unziemliches anstellen würden. Mein Herz schlug mir bis zum Hals als wir endlich eine freie Bank unter einem duftenden Rosenbusch fanden der in voller Blüte stand. Visaria hatte sich auf dem Weg von meiner Hand gelöst und begonnen sich mit wehenden Schleiern im Tanz um mich zu drehen. Ihre Pantoffeln verursachten auf dem Kiesweg dabei kaum ein knirschen, so dass es wirkte als würde eine wunderschöne, feenhafte Erscheinung um mich wirbeln. Es gelang mir kaum meine Augen von ihr abzuwenden und wenn sie hinter mir verschwand verdrehte ich mir fast den Hals bis die Wirbel knackten. Als wir endlich die Bank fanden und uns niederließen war sie sogar etwas außer Atem. „Und, wie gefällt Dir mein Kostüm, Liebster? Wusstest Du, dass ich sogar einmal Tanzstunden bei einer echten Sharisad hatte?“ Ich reichte ihr eine der Kokosnüsse und nahm einen Schluck um meinen trockenen Mund etwas zu benetzen. Meine treu, in der Kokosmilch mussten auch Honig, Rum und Vanille sein. „Du siehst einfach wundervoll aus. Die schönste Blume, die die Wüste je hervorgebracht hat.“ Sie kicherte wieder auf diese unwiderstehliche Art. „Und du willst jetzt doch den Korsaren machen um mich ins liebliche Feld zu entführen? Dann müssten wir jetzt aber bald los, solange Tantchen noch abgelenkt ist.“ Von der seltsamen Begegnung mit ihrer Tante vor wenigen Minuten erzählte ich ihr lieber nichts.  Stattdessen nahm ich ihre Hand in die meine und sah ihr in die Augen. „Wenn du es möchtest würde ich dich jetzt sofort überall hin entführen. Wünsche es Dir, und wir sind in einem Herzschlag an einem anderen Ort,“ hauchte ich ihr entgegen. Und ich meinte es ernst! Hätte sie mich darum gebeten von hier zu verschwinden, ich hätte uns auf der Stelle zum Hafen, ins Haus meiner Eltern oder in ihre Villa gezaubert. Nur das sie es nicht genau so verstand, wie ich es gemeint hatte, sondern eher im übertragenen, romantischen Sinn. Woher hätte sie das auch wissen sollen? „Ach Victor,“ flüsterte sie, als sie näher an mich heranrückte und mir ihre Hand auf die Wange legte. „Mir wird es schon langen, wenn wir demnächst die Reise ins Horasiat machen können. Sorg nur irgendwie dafür, dass uns diese Zeit vergönnt wird.“ Dann näherte sich ihr liebliches Antlitz meinem Gesicht und das erste Mal fanden sich unsere Lippen zu einem Kuss, der dieser Bezeichnung auch gerecht wurde, während ich nun meine Arme um sie schloss und sie eng an mich zog. Sie mochte in den Spielen der jungen Damen wohl bewandert sein, aber ich merkte schnell, dass sie hierbei noch nicht viel Erfahrung hatte. Ihr Kuss war eher ungeschickt, nicht das was ich erwartet hätte. Auf der anderen Seite… sie war noch so jung. Wo hätte sie es gelernt haben sollen? Und trotzdem war es der schönste, sinnlichste, erfüllendste Kuss, der je meinen Mund gestreichelt hatte. Ihre Lippen schmeckten gleichzeitig nach süßem Wein, den Früchten des Dschungels und dem Aroma des Kokosgetränks das wir uns mitgenommen hatten. Ich hätte bis in alle Ewigkeit weiter so mit ihr auf dieser Bank sitzen können, während sich unsere Lippen immer wieder trafen, meine Hände sanft über ihren verschleierten Körper wanderten und ihre zarten Finger unter meiner offenen Weste spielten wie auf einem Instrument. Visaria ging es anscheinend kaum anders als mir, denn wir schafften es den restlichen Abend nicht mehr von dieser Bank herunter. Unmöglich zu sagen wie lange wir dort so saßen, die Zeit völlig vergessend und uns in der Gegenwart und Liebkosung des anderen verlierend. Die Sterne und das Madamal standen schon hoch ab Himmel, die Lichter der Lampions waren zum Teil verloschen, als uns ein dezentes Hüsteln in die Gegenwart zurückschreckte. „Hier seid ihr beiden also,“ sprach die Dame im glitzernden Kleid kaum einen Schritt von uns entfernt stehend. Täuschte ich mich, oder wirkte ihre vorhin sorgfältig gelegte Frisur etwas derangiert? Und wieso hatte ich sie nicht kommen hören? Visaria lag glücklich lächelnd in meine Arme geschmiegt, nicht bereit sich von mir zu lösen. „Tantchen?“ erwiderte sie mit verträumter Stimme. „Wir sind doch gerade erst gekommen. Lass uns noch ein bisschen Zeit…“ So fühlte es sich auch für mich an. Wenn sie es nicht soll, vergeht die Zeit wie im Fluge… oder Tempus fugit wie man auf Bosparano sagt. Tsaiane Ulfhardt schnaubte, aber es hörte sich eher amüsiert als empört an. „Noch ein bisschen Zeit? Wenn ihr beiden Turteltauben hier noch länger sitzt beginnt der Morgen zu grauen. Ich sehe im Rahja schon das erste Rot über dem Meer leuchten…“ Unwillig löste sich Visaria mit einem letzten Kuss, in dem eine ganze Welt voll Verheißung lag, aus meinen Armen. „Das habt ihr beiden sauber eingefädelt. Behaupten das er sich auf der Plantage befindet, um sich dann hier heimlich abzusetzen wo ich dir keine Amme mitgeben kann… glaubt mir, das werde ich nicht vergessen. So ein Phexstück!“ Doch obwohl ihre Worte einer Schelte gleichkamen meinte ich in ihrem Unterton eine gewisse Bewunderung mitschwingen zu hören, auch wenn ich es nicht ganz verstand. Aber in meinem Kopf brummten derzeit ohnehin hunderte Ikanaria-Schmetterlinge, so trunken fühlte ich mich vor Glück. Ich war gar nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Gleichzeitig von Glückseligkeit erfüllt und trauernd, weil die schönste Zeit meines Lebens gerade endete sah ich den beiden hinterher, als sie langsam im Dunkel zwischen den Bäumen verschwanden. Sollte ich gleich in meinem Bett aufwachen würde ich in den Borontempel gehen um Marbo zu opfern, weil sie mir den schönsten aller Träume geschickt hatte. Ich saß noch mehrere Minuten auf der Bank als mit den ersten schreien der Möwen vom Hafen her Praios langsam Borons Nacht verdrängte. Nein, das war kein Traum. Und so wie das Licht den Tag erhellte, drängte sich eine weitere Erkenntnis in meinen Geist. Sie hatte nicht geschimpft. Nicht gedroht. Nicht getobt oder uns Vorwürfe gemacht. Tsaiane Ulfhardt schien noch nicht einmal ein größeres Problem damit gehabt zu haben, dass wir hier beisammengesessen waren! Konnte es sein, dass sie es so ernst mit Visarias und meiner Verbindung nahm, dass sie es einfach hinnahm, wenn wir uns diese Freiheit nahmen, solange es nur nicht in der Öffentlichkeit geschah? War dieses vorgebliche wahren des Anstands nur eine Scharade für alle Anderen, bis unsere Verbindung öffentlich sein sollte? Mein Herz machte erneut einen Hüpfer. Wenn ich damit richtig lag… dann hieße es nur den Schein aufrecht zu erhalten. Visaria würde nicht mit mir ins Liebliche Feld fahren. Sie würde mit ihrer besten Freundin und deren Mutter eine Reise antreten. Wenn von mir, außer als Bedeckung und Schutz für meine Familie, nach außen kein Wort verloren würde… müde aber glücklich erhob ich mich von der Bank und wankte zwischen betrunkenen und vom Rauschkraut benebelten Gestalten hindurch zum Vorhof des Anwesens wo meine Sänfte wartete. Einer der Träger hatte noch wache gehalten und weckte die übrigen Begleiter, welche sich etwas Ruhe gegönnt hatten, als ich kam. Das Schaukeln der Sänfte auf dem Heimweg lullte mich ein, ich wurde müde und schwer. Gerade noch das ich es schaffte mich zu entkleiden und ins Bett zu schleppen, bevor ich schon in den nächsten, wundervollen Traum in Marbos Armen glitt.

Ich war ja normal kein Langschläfer, der dem Praios den lieben langen Tag stahl, sondern eher jemand der mit dem ersten Vogelzwitschern aufstand. Das dies heute anders war mag man mir nachsehen. Tatsächlich wurde ich erst am Nachmittag wach, als zwei fröhliche Kinder ins Zimmer gestürmt kamen und verblüfft stehen blieben. Nandurin deutete auf mich und meinte nur „Dada noch Bett? Dada krank?“ Er sah mich besorgt an. Ulmjescha warf einen Blick auf mich und schüttelt den Kopf. „Nein Nandurin, ich glaube nicht.“ Ich reckte mich, schwang die Beine aus dem Bett und streckte den beiden die Arme entgegen, in die sie sich sogleich lachend hineinwarfen. Ich knuddelte sie kurz und sah sie dann in gespieltem ernst an. „Aber sagt es nicht Mutter, ja? Sie mag es nicht, wenn man wie ein Faulpelz solange im Bett liegt.“ Ulmjescha kicherte und deutete mit einem Fingern an die Lippen an, dass die ihren versiegelt wären. Nandurin machte es ihr nach, auch wenn er vermutlich noch nicht verstand, was dies bedeuten sollte. Ich machte mich eilig fertig und sah nach kürzester Zeit wieder halbwegs repräsentabel aus. Ich hatte ja gestern weder dem Rauschkraut noch übermäßig dem Alkohol zugesprochen, so dass man mir nun weder etwas ansah noch roch. Als einer der Sklaven die Reisetruhe hereinbrachte und Ulmjescha direkt mit dem auspacken begann war ich bereits dabei den zweiten Heiltrank zuzubereiten und wirkte geschäftig wie eh und je. Mutter ließ uns heute, da ja sowieso alle im Hause waren, zu einem frühen Abendessen zusammenkommen. Sie selbst, sagte sie, wolle heute noch nach einer Woche auf dem Land einige Freundinnen treffen und sehen was sie die letzte Woche verpasst hatte. Und Vater ließ sich diesen freien Abend sicher nicht entgehen um direkt im Kontor nach dem Rechten zu sehen. Ich wusste wie schwer es ihm fiel länger als ein oder zweit Tage von seinem Geschäft getrennt zu sein und nicht die Kontrolle über alles zu haben. Er wurde dann immer rastlos wie ein Tiger im Käfig und stürzte sich mit nur noch mehr Elan in die Arbeit wenn er wieder zurück war. Vermutlich würden wir ihn die nächsten beiden Tage kaum zu Gesicht bekommen.

Nur Liliana rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Ich konnte ihr die brennenden Fragen die sie gerade vor Neugier zerfraßen regelrecht ansehen, hielt jedoch eine bewusst neutrale Mine aufrecht bis Mutter die Tischgesellschaft aufhob um sich fertig zu machen. Ich bemerkte beiläufig, dass ich mir wohl noch ein Gläschen Wein und ein gutes Buch auf der Dachterrasse gönnen wollte um den Tag ausklingen zu lassen, wohl wissend das diese Art langweiliger Aktivität Nandurin und damit auch Ulmjescha sicher davon abhalten würde mir dort Gesellschaft leisten zu wollen. Ganz im Gegensatz zu Liliana. Mutter und Vaters Kutsche hatte noch nicht einmal das Tor des Anwesens passiert, da stand sie schon hippelig wie ein kleines Mädchen am Tsatag bevor es an die Geschenke ging vor mir und sah mich auffordernd an. Natürlich wusste ich was sie wollte. Aber ich ließ sie bewusst noch zappeln, nahm erst einmal einen tiefen, bewusst langsamen und genießerischen Schluck aus meinem Weinglas, hatte dabei aber Mühe mich nicht vor Lachen zu bekleckern, bis es aus ihr herausplatzte. „Oh jetzt sag schon, wie war es gestern. Visaria kann ich ja wohl kaum heute Abend noch Überfallen und Fragen. Raus mit der Sprache, du gemeiner Schuft!“ Dabei knuffte sie mich spielerisch in den Arm und ließ sich neben mich auf die Kissen plumpsen. Also blieb mir ja wohl kaum etwas anderes übrig als ihr nun recht ausführlich alles was am gestrigen Abend passiert war zu erzählen, was sie mit konstantem Kichern, Ohs, Ahs und zum Ende hin mit schweren Seufzern quittierte. Als ich zum Ende kam drückte sie mich, sah mir in die Augen und meinte „Brüderchen, das ist ja mindestens genauso spannend wie deine anderen Geschichten! Du solltest vielleicht anfangen Abenteuer- und Liebesromane zu schreiben!“ Bei der Vorstellung, ich würde mit so etwas meine Zeit verschwenden, musste ich nun wiederum lachen. Am besten noch unter einem Pseudonym wie „Aurelio L‘Amor“ damit niemand auf den Gedanken kam das dies auf meinem Mist wachsen würde und ich mir den guten Ruf damit verdarb. „Darauf kannst Du lange warten, Lili. Niemals! Meine Erzählungen sind nur für Euch…“ Sie kuschelte sich jetzt an mich und ich genoss diesen Vertrauensbeweis den mir meine Schwester erbrachte. „Das hört sich zumindest nicht so an, als wäre Visaria enttäuscht gewesen… ich bin schon auf ihre Sicht gespannt, wenn ich sie morgen früh treffe.“ „Und natürlich wirst du mir wie eine brave Schwester danach alles erzählen, nicht war Lili…?“ sah ich sie hoffnungsvoll an. „Nur wenn sie es mir nicht verbietet! Es muss doch auch Geheimnisse unter Freundinnen geben dürfen!“ Ich bot ihr gerade einen Schluck Wein an, als Ulmjescha und Nandurin aufs Dach hinaufkamen. Schnell wechselten wir das Thema, wie die Kinder es sich bei uns auf den Kissen bequem machten und wir dann darüber redeten, was wir die nächsten Tage noch vorhatten, bevor es schließlich Zeit für das Bett wurde.

In dieser Nacht hatte ich nicht ganz so gut geschlafen, war eher unruhig gewesen. Das mochte einerseits daran liegen, dass ich ja am Vortag weit in den Nachmittag hinein geschlafen hatte, auf der anderen Seite vielleicht auch an dem heute anstehenden Gespräch mit seiner Spektabilität. Ich hatte bisher noch keine zündende Idee gehabt, wie ich das Thema der neidigen Magister richtig ansprechen sollte. Mit so etwas sollte man eher nicht mit der Tür ins Haus fallen, wenn man sich nicht von Anfang an lächerlich machen wollte. Erschwerend kam dazu, dass ich mich auch nicht im Bett herumwälzen konnte ohne dabei ständig Nandurin und Ulmjescha zu wecken. Einmal meinte ich sogar mitten in der Nacht noch Geräusche vom Dachboden gehört zu haben, aber das war vermutlich nur meine Einbildung. Niemand, nicht einmal die Diener, würden sich zu dieser Zeit dort oben zu schaffen machen. So ging ich immer noch rechtschaffen Müde mit den beiden zum Frühstück, das für mich im Wesentlichen aus Kaffee mit Rohrzucker bestand um mich für den Tag wach zu bekommen. Vater hatte es wieder recht eilig, wie erwartet. Ulmjescha und Nandurin sollten heute die Haare geschnitten bekommen und gingen mit einer Dienerin hinaus so dass bald nur noch Mutter, Liliana und ich übrigblieben. Ich wollte mich ebenfalls gerade absentieren um meine schriftliche Abfassung für heut Abend noch einmal durchzugehen, da räusperte sich meine Mutter auffallend, was mich verharren ließ. „Victor, du hast mir nicht zufällig etwas zu beichten, oder?“ Dabei sah sie mich mit ihrem „strengen“ Blick an, den ich früher gefürchtet hatte. Und alte Gewohnheiten sind ja schwer abzulegen, auch wenn Furcht mittlerweile wohl der falsche Ausdruck für das Gefühl war, das mich nun beschlich. Nennen wir es lieber eine böse Vorahnung. „Nein Mutter, nicht das ich wüsste, warum fragst Du?“ „Nun, ich war gestern Abend ja noch zu einer späten Gesellschaft bei einigen Freundinnen…“ Innerlich verfluchte ich bereits die Al’Anfaner Klatschweiber, „… und du kannst Dir nicht denken was sie mir erzählt haben!“ Dabei sah sie mich lauernd an, wie ein Jaguar, der direkt über seiner Beute auf dem Ast lag. „Bei den Kugres hat es kürzlich einen Maskenball gegeben.“ Liliana stocherte nervös mit ihrem Messer auf dem Teller herum und traktierte dabei eine arme Banane. „Es waren fast alle meiner Freundinnen dort, das Ereignis der Woche, wie sie meinten. Und alle erzählten sie von diesem einen besonders ansehnlichen, schnuckeligen Jüngling der wohl das erste Mal bei solch einer Feier aufgetaucht war. Von dem aber keine genau sagen konnte ob er nun Gast, Diener oder angeheuerter Lustsklave war. Sie waren sich nur sehr einig über seine körperlichen Vorzüge. Wenn du sie gehört hättest… die Wortwahl! Sie haben sich angehört wie rollige Straßenkatzen, die sich um einen Kater balgen. Ich bin ja nicht prüde, aber dabei bin sogar ich rot geworden. Und neugierig. Sie konnten zwar nicht sagen wer der Junge gewesen sein soll, aber dafür konnten sie sein Kostüm und seine Maske sehr Detailreich beschreiben…“ Ich verschluckte mich an einem Brotkrümel und musste husten. Liliana klopfte mir fürsorglich auf den Rücken. „Was soll ich sagen, das Kostüm war jetzt nicht sonderlich ausgefallen, ein Pirat, wie wenig originell. Das hätte man vermutlich in jedem besseren Kleiderladen zusammenstellen können. Aber die Maske hat doch meine Aufmerksamkeit erregt. Du weißt ja, diese Stücke sind recht individuell und werden oft für ganz spezielle Anlässe gefertigt, wenn einer der hohen Herren seine Feier unter ein bestimmtes Motto stellt…“ Der Husten hatte sich gelegt, aber jetzt scharrte ich nervös mit den Füßen über den Boden. „Wie dem auch sei, ich meinte mich zu erinnern das Armando einmal mit mir zu einer Unterwasser-Feier als Efferd verkleidet gegangen ist vor einer kleinen Ewigkeit. Er war damals ein recht stattlicher Mann, musst du wissen. Und die Beschreibung der Maske machte mich stutzig, sie kam mir so vertraut vor. Ich bin gestern Abend sogar noch auf den Dachboden gestiegen… und Rate was in der Kiste mit unseren alten Kostümen, die anscheinend jemand kürzlich durchwühlt hat, gerade fehlt… also?“ Ich fluchte innerlich. Das waren also die Geräusche, die ich heute Nacht gehört zu haben glaubte. Verdammt sei ihr Netzwerk von Klatschweibern und ihr Gedächtnis, auf das ein Waldelefant stolz hätte sein können! Vor Mutter irgendetwas verstecken zu wollen war ungefähr genauso erfolgversprechend wie wenn ein Paktierer einem Erzdämon seine Seele vorenthalten wollte!

Es hatte ja eh keinen Zweck. Schicksalsergeben hob ich den Blick und sah ihr in die Augen – die seltsamerweise keinen strengen, strafenden, sondern eher amüsierten Ausdruck zeigten. „Ja wenn du es so sagst Mutter… es könnte sein das ich mir unter Umständen etwas aus Eurer Kiste ausgeliehen habe um dort auf der Feier auf Visaria aufzupassen…“ Jetzt schnaubte sie amüsiert und es hörte sich an, als würde ein Pferd prusten. „Victor, du warst schon immer furchtbar schlecht darin Dinge vor mir zu verheimlichen. Das mag ich so an dir, Junge.“ Sie tätschelte mir den Arm. „Also wirklich. Wichtige Arbeiten an der Akademie? Eine bessere Ausrede ist dir dafür nicht eingefallen? Du weißt schon, dass Vater und ich Eurer Verbindung zugestimmt haben, oder? Du hättest mich auch einfach Fragen können…“ Die Spannung die über dem Tisch gelegen hatte begann sich langsam zu lösen. Liliana kicherte schadenfroh, als sie Mutters Worte hörte. „Und überhaupt, wie hast du es geschafft dir eine Einladung zu dieser Feier zu ergaunern? Da kommt man nicht so einfach hinein. Und hättest Du nicht etwas dezenter auftreten können? Ich kenne meine Freundinnen. Die sind, wenn sie Blut geleckt und sich etwas in den Kopf gesetzt haben wie ein Rudel Hyänen auf der Jagd – die werden keine Ruhe geben, bis sie herausbekommen haben wer der mysteriöse Schönling war. Und falls du nicht vorhast sie der Reihe nach wie ein Deckhengst im Rahjatempel zu besteigen kann ich Dir nur raten, dass du weit weg bist, wenn sie es irgendwann erfahren… wirklich. Ich habe quasi ihre erregten Gebärmütter Purzelbäume schlagen sehen, als sie von Dir erzählt haben…“ Jetzt war es an mir rot zu werden vor Verlegenheit. Solch eine Auswirkung hatte ich nun wirklich nicht vorausahnen können, oder? Da sie es eh schon wusste erzählte ich nun Mutter also ebenfalls wie ich es auf die Feier geschafft hatte und was dort alles geschehen war. Das zumindest schien sie recht zu amüsieren und so saßen wir doch noch eine weitere Stunde am Tisch. „Ach Victor…,“ meinte sie dann, „du kannst so ein süßer Kerl sein, wenn du nur willst. Manchmal frage ich mich, was aus dir geworden wäre, wenn wir dich nicht auf die Akademie geschickt hätten. Vermutlich der bestbezahlte und begehrtestes Unterhalter für arme allleinstehende Frauen…“. Jetzt war es an mir, entrüstet zu sein. „Mutter, wie kannst du…“ aber sie ließ mich gar nicht ausreden. „Nein, nein, es passt schon alles so wie es ist. Wir beschreiten ja doch alle nur den Pfad, den die Götter für uns vorgesehen haben.“

Als ich geendet hatte kam mir dann doch noch eine Idee. „Apropos, Mutter, du meintest doch vorhin, ich solle möglichst weit weg sein, wenn deine Freundinnen hinter das Geheimnis kommen. Bevor ich erneut auf eigene Faust etwas unternehme…,“ sie stieß dabei missbilligend die Luft aus, „…würdest du mir vielleicht bei einer Kleinigkeit helfen? Ich wäre dir wirklich sehr dankbar…“ Sie sah mich fragend und mit hochgezogener Augenbraue an, ihr Blick sprach Bände. „Wenn wir beide bald ins Horasreich reisen wegen dem Vertrag, könnten wir dann vielleicht Liliana, Nandurin und Ulmjescha mitnehmen?“ tastete ich mich vorsichtig heran. „Liliana hätte ich ohnehin mitgenommen. Ein wenig die anderen Kulturen kennenlernen kann ihr nicht schaden. Und das Horasreich ist ja jetzt auch nicht gerade da Barbarenland Thorwal,“ erwiderte sie. „Aber Nandurin und Ulmjescha?“ „Ich würde gern die verlorene Zeit mit Nandurin nachholen, ich war ihm die letzten zwei Jahre nicht gerade der beste Vater, oder?“ Mutter nickte nur. „Und irgendwer muss ja auf ihn schauen, wenn ich doch einmal an einer der Akademien etwas zu erledigen hätte, also werden wir Ulmjescha brauchen. Sie ist ja auch schon fast so etwas wie eine große Schwester für ihn, findest du nicht?“ Ihre Antwort überraschte mich, aber anders als ich es vermutet hätte. „Wenn Du also Nandurin mitnimmst werde ich wohl auch Armando mitnehmen. Ulmjescha kann sich ja um beide kümmern. Große Schwester, ja? Du meinst nicht vielleicht eher Ersatzmutter, oder?“ Ich blickte sie verwirrt an. „Nein, meine ich nicht. Wie kommst Du denn auf so etwas?“ Die Retour lies mich im ungewissen und grübelnd zurück. „Ach Victor. Hesinde mag dich ja mit einem klugen Kopf gesegnet haben, das will ich gar nicht bezweifeln. Aber manchmal frage ich mich schon, ob dich ihre gütigen und schönen Schwestern nicht in manchen anderen Dingen mit Blindheit geschlagen haben…“. Leider konnte ich dieses Thema nicht weiterverfolgen, ich hatte auch nicht den Eindruck das Mutter das jetzt vertiefen wollte. Daher wand ich mich wieder dem ursprünglichen Ziel zu. „Nun, da es ja anscheinend ohnehin schon einen beschlossenen Familienausflug geben wird. Du könntest Tsaiane Ulfhardt nicht vielleicht anbieten Visaria zur kulturellen Bildung ebenfalls mit ins Horasreich zu nehmen? Du weißt schon, die berühmten Theater, die Kunstgalerien, die bunten Mauern von Methumis. Vielleicht die heißen Quellen von Tenos? Wir würden ja für ihre Sicherheit bürgen, nicht wahr?“ Ich sah sie hoffnungsvoll an, als ihre Mundwinkel zuckten. „Soso… daher weht also der Westwind.“ „Bitte, ich kann ja schlecht selbst bei der Dame Ulfhardt vorsprechen und fragen. Zumindest nicht, solange unsere Verlobung noch nicht offiziell ist.“ „Dir ist schon klar, Junge, das die Dame Ulfhardt auch nicht gerade auf den Kopf gefallen ist, oder?“ „Ja Mutter, diesen Eindruck hatte ich auch schon gewonnen. An ihr ist etwas… besonderes, ich kann es nicht richtig fassen was, aber sie ist auf jeden Fall nicht unbedarft.“ „Dann ist ja gut, wenn du das erkannt hast. Ich glaube es wäre ein tödlicher Fehler, deine zukünftige Schwiegertante zu unterschätzen.“ Ich nickte. „Also, willst du mir helfen?“ Mutter seufzte, und Visaria kaute vor Spannung wie es ausgehen würde an ihren Fingernägeln. „Es ist wahrscheinlich wirklich besser, wenn ich das von Frau zu Frau mit der Dame Ulfhardt bespreche. Aber gib dich keiner Illusion hin. Ich werde gar nicht erst versuchen ihr irgendeinen Unsinn zu erzählen. Für alle anderen wird es so sein wie du es gesagt hast, Visaria wird mit ihrer besten Freundin einen Kulturbesuch im Lieblichen Feld machen. Aber ihr werde ich sagen, wer mich darum gebeten und angestiftet hat. Ob sie dir das zum Guten oder Schlechten auslegt und der bitte nachkommt bleibt allein ihr überlassen, verstehst du?“ Ich war so erleichtert! „Ja Mutter, ich verstehe. Danke!“ Und dann tat ich etwas, das nicht mehr oft vorkam seit ich kein kleiner Junge mehr war. Ich beugte mich zu ihr hinüber und umarmte sie. Man sah es Mutter vielleicht nicht an, aber wenn es daran ging etwas auszuhandeln oder ihren Willen zu bekommen konnte sie nicht weniger eisenhart als Vater sein. Und sie in dieser Sache auf meiner Seite zu wissen war von unschätzbarem Wert. Von der Seite des Tischs hörte ich ein leises jubeln als Liliana ebenfalls aufsprang und Mutter um den Hals fiel.

Den Rest des Tages verbrachte ich schließlich damit meinen Bericht für die Spektabilität noch einmal zu überarbeiten. Er war im Wesentlichen eine sehr getreuliche Schilderung der Suche nach den Schlüsselteilen, der Schatzkammer und der sich anschließenden Verfolgung von Perizel und ihrer Knechte. Wobei ich die profanen Dinge weitgehend wegließ und den Fokus auf die arkanen und wundersamen Aspekte legte. Die Spektabilität interessierte sich sicher nicht für solche Dinge wie das Löten im Bornland, aber für die Präsenz von Unheiligtümern, besondere Sternenkonstellationen, wundermächtige Artefakte, Untote und Dämonen hingegen mit Sicherheit sehr. Auch hier ließ ich jedoch zumindest einige kleinere Dinge aus. Niemand würde erfahren, dass ich ein Exemplar des Arcanum gefunden hatte, dieses Geheimnis würde ich bitterlich hüten. Oder das ich angefangen hatte den Skeletarius zu erlernen. Wir waren zwar eine Akademie der Bruderschaft der Wissenden, aber Nekromantie war in der Stadt des Raben nicht gut gelitten. Da waren unsere Priester nicht toleranter als ihre Glaubensbrüder aus Punin, wie schon so mancher unbedarfte Totenbeschwörer hatte erfahren müssen. Verfolgung, Verurteilung und Scheiterhaufen lagen da nicht weiter weg als bei der mittelreichischen Inquisition. Und meine Verbindung zu der ein oder anderen Erzdämonischen Wesenheit war ebenfalls nicht unbedingt für die Ohren der Kollegen bestimmt. Aber auch ohne solche Kleinigkeiten hatte ich genug zu erzählen um mehrere Stunden und Seiten zu füllen.

Als die sechste Stunde des Abends kam machte ich mich, angetan für den besten Eindruck in meiner neuen Robe, auf in die Universität. Offenbar wünschte seine Spektabilität keine ungebetenen Zuhörer, denn die Audienz fand in deren privaten Räumlichkeiten statt. Anscheinend war ich nicht der einzige Termin den Lomarion-Zornbrecht heute Abend angesetzt hatte, da zwei mir bekannte Dozenten der allgemeinen Arkanologie und der theoretischen Alchemie ihn gerade verließen. Im Vorbeigehen gefror das zufriedene Lächeln, das sie gerade noch zur Schau gestellt hatten, zu Eis, als sie meiner ansichtig wurden und mit verächtlichem Blick an mir vorbeieilten.

Ich trat ein und wurde vom Leibdiener seiner Spektabilität in einem kleinen Teesalon platziert bevor er davon ging um mich anzukündigen. Nach etwa einem Viertel Stundenglas öffnete sich die Tür wieder und der Leibdiener forderte mich auf zu Folgen. Er brachte mich zur Spektabilität die mich als Kollegen begrüßte, von dem man in letzter Seit die wunderlichsten Dinge gehört habe und denen es nun auf den Grund zu gehen gälte. Nun ja, auch die Spektabilität war am Ende nur ein Magier, und unsere herausragende Eigenschaft ist einfach oftmals die Neugier. Mir wäre es sicher nicht anders ergangen. Er fordert mich auf in einem der vier großen, sehr bequemen Ledersessel Platz zu nehmen und bot mir an mich am Wein, Früchten und den Spezereien gütlich zu halten die er hatte bereitstellen lassen. Ich entspannte etwas. Und das war wohl genau was er beabsichtigt hatte, der gerissene Fuchs, bevor er mich, im geistigen Sinne, ins Straucheln brachte und zu sprechen begann.

„Bevor ihr die jüngsten Erzählungen über Euch einordnet, das Unwahre ins Reich der Legenden verbannt und wir die Dinge von Tragweite erörtern,“ so die Spektabilität, „wäre noch eine Kleinigkeit zu besprechen“ und er gab mir ein gerolltes Pergament in die Hand. Als ich dieses aufrollte kam es mir gleich bekannt vor.

„Pellisario‘s KOSTENLOSES Tutorium – Im Garten hinter dem Kreuzgang, Windstags zur Firunsstunde. Kostenfreie Nachhilfe nach Bedarf in Bosparano, Götterkunde, allgemeiner Arkanologie, Botanik und theoretischer Alchemie.“ 

Seine Spektabilität führte mit einem dramatischen Seufzen sodann einige Dinge kurz aus: Dozenten hätten sich bei ihm beschwert. Wenn so etwas Schule machen würde, brächen wichtige Einnahmequellen für Lehre und Forschung weg. Der Ruf der Universität lebe davon, dass immer nach neuesten Erkenntnissen und auf dem Stand des aktuellen Wissens gelehrt würde - die dafür notwendige, ständige Weiterbildung, die dafür notwendigen Reisen kosteten nun einmal viel Geld und die Gebühren, die wiederum von den Meistern ihres Fachs verlangt würden dienten ja nur dazu, diese Auslagen zu decken. Dies alles wolle verdient sein, neben dem Salär, das die Universität bezahle habe sich das hier und im Übrigen auch an den meisten anderen Lehreinrichtungen des Südens etablierte System von Zusatzunterrichten hervorragend bewährt. Dabei fasste er mich mit festem Blick ins Auge.

„Würdet Ihr Kollege Pellisario - Eure hier genossene Ausbildung vom Wert her geringschätzen?“ Das tat ich natürlich nicht! Und ihm jetzt zu widersprechen wäre wohl auch nicht sonderlich klug gewesen. „Ein Magus weiß was er investieren musste um das Wissen zu erlangen, dass er sein Eigen nennen darf! Macht euer Wissen nicht zunichte und wertlos indem ihr es denen, welche die extra Anstrengung nicht gehen wollen um es zu erlangen, wie auf dem Basar hinterherwerft. Vielmehr solltet ihr herausstellen, dass ihr trotz aller Unbill der geworden seid, den ich nun vor mir stehen habe. Zudem bedenkt, unsere Herrin Hesinde hat Eures, ebenso, wie unser aller Gehirne, als leeres Gefäß geschaffen, das es zu füllen gilt. Ich will damit sagen, unsere Dozenten sind Euch an vielerlei Stelle insofern voraus, dass Ihr Gefäß hinsichtlich Ihres Fachbereichs zumeist besser gefüllt ist als das Eure. Wissenschaft lebt nicht zuletzt vom Teilen des Wissens, vom Diskurs und von der Forschung. Was - und bedenkt das Wohl, wenn auf einmal hier an der Universität, ob einer Entwicklung hin zu kostenlosen Tutorien, unter den Dozenten keiner mehr bereit wäre, auch nicht gegen gutes Geld, Euch selbst am bestehenden Wissen teilhaben zu lassen oder hinsichtlich eines von Euch aufgestellten Theorems in den hesindegefälligen Diskurs zu gehen? Bedenket auch, die Dozenten reisen, die Dozenten tauschen sich mit Angehörigen der anderen Akademien aus. Möglicherweise, um es banal auszudrücken, seid ihr in der kleinen Gemeinschaft der Privilegierten, als die wir uns durchaus bezeichnen können, bald so beliebt wie das sprichwörtliche „Stinktier im Esszimmer“. Ihr seid jung, enthusiastisch und voll Tatendrang und fürwahr, Eure Idee wahrscheinlich geboren aus eurer eigenen Erfahrung, ehrt Euch. Gemessen am Statut kann und will ich Euch Euer Vorhaben nicht untersagen. Jedoch lasst Euch von einem alten Universitätshasen, vielleicht besser Universitätspolitiker, sagen, denkt in einer ruhigen Minute darüber nach, ob ihr Euch hier nicht, sämtliche, gerade erst aufgestoßenen Universitätstüren und offene Ohren wieder verschließt, wenn ihr an der Idee festhaltet.“

Ich war mir sicher, seine väterliche Mine und vorgegebene Fürsorge waren nur gespielt. Hier war mir eindeutig jemand zuvorgekommen. Die Gedanken, wie ich das Thema hätte ansprechen könnten, hätte ich mir sparen können. Die Spektabilität war zweifelsfrei nicht auf meiner Seite oder meinen Argumenten zugänglich, diesen Atem konnte ich mir sparen. Er hatte mich mit dieser Angelegenheit überfahren wie ein Gladiator im Streitwagen einen Arenasklaven. Das wurmte mich. Enorm! Aber spontan wollte mir keine passende Antwort einfallen. Also erwiderte ich mit bedächtiger Stimme. „Eure Worte haben mich erreicht, Eure Spektabilität. Ich will, so wie ihr sagtet, eine Nacht darüber sinnieren und Euch am morgigen Tag eine Antwort bieten.

„Sehr gut!“ Dabei klatschte er in die Hände. „Und nun, da dieses leidige Thema beiseite geräumt ist, will ich mir Eure Geschichte anhören.“ Und die präsentierte ich ihm, schwor bei Hesinde, das kein Wort davon erfunden war. Seinem oft ungläubigen Gesicht sah ich an, dass dies alles und noch viel mehr war, als er erwartet hatte. Jede der Erzählungen untermauerte ich mit dem schriftlichen Bericht, dem ich im aushändigte und zu dem er sich immer wieder Notizen und Anmerkungen machte. Bei seinen Rückfragen musste ich allerdings stets aufpassen, dass ich nicht doch mehr preisgab, als ich gewollt hatte. Aus den ursprünglich angesetzten drei Stundengläsern wurden am Ende deren fünf und ein gemeinsames Abendesse, dass er seinen Diener bringen ließ. Ich hatte in jedem Fall am heutigen Abend seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ob er mir tatsächlich alles für bare Münze abnahm fiel mir schwer zu sagen, aber warum hätte er mich der Lüge bezichtigen sollen? Als ich endete bot ich auch der Spektabilität an, was ich schon den Tempeln der Zwölfe angetragen hatte. Wenn unser wunderbares Institut einmal irgendwelche Probleme mit den Dienern des Rattenkinds haben sollte wäre ich gerne bereit, mich dieser anzunehmen, man bräuchte nur nach mir zu rufen. Er verabschiedete mich mit den Worten „Ihr scheint euren selbst gewählten Namen ernst zu nehmen, Pellisario. Und diese Einstellung kann nur im Sinne der Herrin Hesinde und des Herrn Boron sein, das will ich euch zugutehalten. Aber verliert darüber nicht die übrigen für unsere Akademie und unsere Zunft wichtigen Dinge oder Eure persönlichen Anliegen aus den Augen. Niemand mag oder braucht Fanatiker, die das eigentliche Leben nicht mehr vor sich sehen. Und bedenkt, ich erwarte Morgen bis zum Abend Eure Antwort in der Anderen Angelegenheit, die wir vorher besprochen hatten.“

Als ich die Akademie verließ war ich zwiegespalten. Auf der einen Seite lief die Audienz bei Meister Lomarion-Zornbrecht eigentlich hervorragend. Mein Bericht mochte gar einen Ehrenplatz in den Sammlungen der Akademie erhalten wegen besonderer Verdienste um die Sicherheit Deres! Andererseits war da diese andere Angelegenheit mit den Scholaren, denen ich hatte helfen wollen und bei der man sowohl den Schülern als auch mir im bildlichen Sinne die Armbrust auf die Brust gesetzt hatte. Und ich wäre ein Narr, wenn ich zuließe, dass man bei mir oder den Schülern den Abzug drückte! Das war wieder einmal so eine politische Angelegenheit, die da hinter den Kulissen ausgespielt wurde. Ich hasste das! Aber wie aus der Sache herauskommen, ohne das Gesicht zu verlieren? Ich könnte natürlich einfach auf meinem Standpunkt beharren, was ich nur zu gern tun würde. Einfach aus Prinzip. Aber war das schlau? Die Worte der Spektabilität waren nicht von der Hand zu weißen. Was würde es mir bringen, wenn mich die Kollegen in Zukunft schnitten? Ich würde mir im schlimmsten Fall eine neue Akademie suchen müssen – mangels Alternativen in Al’Anfa eher schwierig umzusetzen. Ja weiter, wie würden die übrigen Institute der Bruderschaft hier im Süden reagieren? Falls auch sie mich wie einen Aussätzigen behandeln würden bliebe mir gar nur ein Gildenwechsel. Und auf die Beschränkungen der weißen Kleingeister und selbst das biedere Gehabe der Grauen hatte ich wirklich keine Lust! Außerdem stand schwarz mir ausgesprochen gut… mit dem Kopf durch die Wand würde ich also kaum weiterkommen ohne bereit zu sein, ernsthafte Konsequenzen zu ziehen. Aber zurückstecken und Aufgeben? Den Gesichtsverlust vor den Adepten mochte ich, auch wenn er mir zuwider war, gerade noch verschmerzen können. Die meisten davon würde ich vermutlich nie wieder sehen, wenn ich meinen Plan aufgab. Viel schwerer wog da der Kratzer den mein Selbstverständnis, mein Ego wie der Seelenheilkundler sagen würde, vor mir selbst davontragen würde. War ich bereit dies hinzunehmen und könnte danach noch mit dem gleichen Stolz wie bisher in den Spiegel blicken. Diese Wunde würde tief sitzen und vermutlich länger brauchen bis sie heilte. Und da waren natürlich noch dies neidigen, kleingeistigen und affektierten Kollegen. Wenn ich jetzt zurücksteckte, was wäre das für ein Signal an den Lehrkörper. Gerade hier in Al’Anfa! Natürlich würden sie mir vordergründig zu meiner klugen Entscheidung gratulieren. Aber hinter meinem Rücken? Sie würden sich das Maul zerreißen! Seht ihr, dem Pellisario haben wir es gezeigt. Wir wussten es von Anfang an, dass er nicht den Mum dazu hat, er wird immer vor uns einknicken. Ein leichtes Opfer, den könnt ihr getrost ignorieren, wenn es um Belange der Akademie geht. So und ähnlich dürfte sich ihr Gerede vermutlich bald anhören. Es war zum Verzweifeln. Hesinde, was hatte mich dabei nur geritten? Je näher ich nach Hause kam, umso schlechter wurde meine Laune weil mir Partout keine Lösung einfallen wollte. Ich brütete noch vor mich hin, als ich meine Räumlichkeiten betrat.

Nandurin und Ulmjescha spürten sofort, dass etwas nicht stimmte. Nandurin kam zu mir heran, zupfte an meiner neuen Robe und wollte hochgehoben werden. „Dada traurig?“ Er drückte seinen kleinen Kopf an meine Wange. Traurig war zwar nicht das richtige Wort, eher zornig und verzweifelt, aber allein seine Zuwendung tat mir schon gut, auch wenn sie mein Problem natürlich nicht löste. Ulmjescha rückte ebenfalls an mich heran, legte ihr Gesicht in meine Handfläche und blickte scheu zu mir auf. Ich strich ihr zärtlich durch ihre Haare. Die neue Frisur die sie jetzt hatte passte wunderbar zu ihrem sanften, manchmal frechen Gesicht. Sie schmiegte sich an mich, als ich mich auf den Sessel setzte und fast hatte ich den Eindruck sie würde wie ein Kätzchen schnurren als ich sie geistesabwesend streichelte. Die Wärme der beiden Kinder begann meinen aufgewühlten Geist zu beruhigen und sie schienen dies zu spüren. Wir waren einfach füreinander da. Es fühlte sich wirklich an wie Familie. Keines der beiden Kinder schien sich von mir lösen zu wollen, während wir wortlos so traut zusammensaßen. Wer würde mir bei diesem Problem helfen können? Mir fiel niemand ein. Gedankenverloren rieb ich meine Wange an Nandurin, der seine kleinen Ärmchen um meinen Hals geschlungen hatte und strich Ulmjescha über den Rücken, die sich noch enger auf meinen Schoss gekuschelt und ihren Kopf auf meine Brust gelegt hatte. Nein, auf fremde Hilfe schien ich nicht hoffen zu können. Mein Anliegen bei den versoffenen und verzweifelten Priestern der Schlange im Tempel vorzubringen würde mich auch nicht weiterbringen. Was würde Vater tun? Vermutlich mit der Schulter zucken und mir raten, meinen Stolz hinunter zu schlucken. Das Geschäft hatte Vorrang vor Gefühlen und Befindlichkeiten. Und Mutter? Sie würde wohl pragmatisch sagen, was mich die Schüler zu interessieren hätten, solange ich keinen Lehrauftrag an der Universität hatte, ich solle mich lieber um echte Probleme kümmern. Keine Hilfe, oder? Dann hörte ich es, wie ein Flüstern in meinem Hinterkopf. Eine Stimme, kalt und gleichzeitig schmeichelnd warm. Lockend und abstoßend. Heißer und hektisch, aber zugleich süß wie Honig. Waren das meine eigenen Gedanken, oder die eines anderen? Unweigerlich musste ich an den fürchterlichen vielgehörnten Feilscher im Dschungel denken, der mir so verlockende Angebote gemacht und lukrative Handel offeriert hatte. „Und warum gehst Du nicht den Weg Al’Anfas, den deine Heimat immer wählt? Gabe und Gegengabe. Wir haben Dir doch alle Mittel dafür gegeben, du musst sie nur einsetzen…“ Wie sich auflösender Nebel verklangen die Worte in meinem Geist und ließen mich ratlos zurück. Was sollte mir das sagen? Hatte ich etwas übersehen? Unter der Wärme der kindlichen Körper war ich wohl fast eingedöst, als ich mit einem Aufschrei hochfuhr, die beiden erschrockenen Kinder gerade noch mit den Armen fangend und festhaltend. „Heureka! Ich habs!“ Vier verwunderte Augen sahen mich an. „Oh, diesen alten Krähen werde ich es so etwas von Zeigen, ihr werdet sehen!“ Jetzt strahlte ich, erfüllt von diebischer, fast dämonischer Vorfreude auf die dummen Gesichter. Ich konnte es gar nicht erwarten, früh genug wieder vor ihrer Spektabilität zu erscheinen. Eilig machten wir uns bettfertig und kuschelten und eng umschlungen unter die Decke. Nandurin zwischen Ulmjescha und mir, wie eh und je, aber heute hatte ich meine Arme um die beiden gelegt und auch Ulmjescha hatte ihre Ärmchen soweit es ging um mich gespannt, als würde sie mich nie wieder loslassen wollen, und genauso erwachten wir drei am nächsten Morgen wieder.

Das Frühstück konnte mir gar nicht schnell genug vorbei gehen und ich eilte mit Vater, der sich ebenfalls nicht viel Zeit nahm, früher vom Tisch, als Mutter es üblicherweise guthieß. In meinem Zimmer bereitete ich mich vor, noch einmal die gute Robe anlegend und packte meine Umhängetasche zusammen. „Fresst das,“ dachte ich bei mir, bevor ich mich von der Kutsche so schnell es ging zur Universität fahren ließ. Als ich eintraf war die Spektabilität gerade in der morgendlichen Besprechung mit Prodekan Al’Terk und der Fakultätssekretärin Rondriguez, um die heutigen Studienfächer und Pläne zu prüfen. Nicht das dies nötig gewesen wäre, die Pläne standen oft schon weit im Voraus fest und wurden von den Magistern, wenn ihre Stunden erst einmal eingetragen waren, mit Klauen und Zähnen verteidigt. Ich lächelte den Dreien aus dem derzeit leeren Sekretariat zu und grüßte mit einem freundlichen „Hesinde zum Wohlgefallen und einen guten Morgen, hochgeschätzte Maester und die werte Dame.“ Mit einem leichten Stirnrunzeln ob der unerwarteten Störung wanden sich mir ihre Blicke zu. Allerdings hatte sich die Spektabilität sofort wieder im Griff. „Ah, der junge Kollege Pelisario. Anscheinend hat Euch Hesinde schon im Schlaf besucht, um diese offene Angelegenheit zu regeln, dass ihr so früh am Morgen schon hier seid? Wünscht ihr, dies unter vier Augen mit mir zu besprechen?“ Offensichtlich erwartete er ernsthaft, dass ich vor ihm einknickte. Wieder lächelte ich. „Nicht nötig, eure erhabene Spektabilität. Ich schätze die Anwesenden überaus, es gibt also nichts zu verheimlichen.“ Dabei trat ich in das Büro. „Und wie habt ihr Euch nun entschieden, Herr Pellisario? Darf ich davon ausgehen, dass ihr meine wohlmeinenden Worte gut abgewogen und verstanden habt?“ „In der Tat, Eure Spektabilität, das habe ich. Eure Argumente waren höchst eindringlich, ich konnte mich ihnen sozusagen nicht verschließen.“ Lomarion-Zornbrecht lächelte selbstzufrieden, sich seines Sieges offenbar sicher. „Daher habe ich beschlossen, die guten Sitten dieser ehrenwerten Institution zu achten und den Traditionen so wie ihr es sagtet zu folgen.“ Seine Mine entspannte sich in der sicheren Erwartung, ein weiteres Problem ohne größeres Aufheben geregelt zu haben als er mir antwortete. „Sehr gut, junger Kollege, eine weiße Entscheidung auf diese törichten kostenlosen Tutorien zu verzichten. Ich wusste, ihr würdet Vernunft annehmen…“ Das selbstgefällige Grinsen der anderen beiden am Tisch entging mir dabei nicht. „Wie stets habt ihr selbstverständlich Recht, Eure Spektabilität.“ Dabei öffnete ich meine Umhängetasche und schleuderte einen klimpernden Lederbeutel zwischen die drei sitzenden auf den Tisch. Sie schreckten zurück, als hätte ich einen Sack Skorpione zwischen sie geworfen. „Daher, und eingedenk der Statuten und Traditionen dieser ehrenwerten Institution, beantrage ich hiermit nach Artikel 45 der Universitätsordnung die Aufnahme in den ordentlichen Lehrkörper im Rang eines Professors mit der vollen Berechtigung Unterrichte zu erteilen sowie Studiengebühren zu erheben. Ihr dürft gerne Nachzählen, es sind 100 Dublonen, so wie es die Satzung des Hauses vorschreibt. Ich denke, auf die Identifikation meiner Person und Prüfung des erforderlichen Abschlusses können wir verzichten, da ich diesen ja hier erworben habe.“ Dem Prodekan und der Sekretaria stand der Mund offen. Die Spektabilität hatte sich als erster wieder im Griff. „Eine… interessante Auslegung meiner Worte, die ihr da wählt.“ Er öffnete die Verschnürung und zählte kurz vor den anderen beiden als Zeugen die Münzen. „Nun, es sind 100 Dublonen, fürwahr.“ In seinem Kopf schien es zu rattern, als ob er noch ein Schlupfloch suchte, um sich dem Unvermeidlichen zu entziehen. Aber ich wusste, es gab keines. Es war der Al’Anfaner Weg. Handel und Gegenhandel – Gold für Gefälligkeiten und Titel. So stand es geschrieben, seit die Universität im Namen des Herrn Nandus gegründet wurde. Bedächtig strich die Spektabilität das Geld zurück in den Beutel und sah mich dabei an. „Ihr seid euch dessen sicher? Das ist viel Gold, das ihr dahinwerft, nur um Euren Willen zu bekommen. Und wir werden ein Auge darauf haben, dass ihr für Eure Lehre eine angemessene Gegenleistung einfordert, dessen seid versichert.“ Ich antwortete ihm im Brustton der Überzeugung. „So war mir Hesinde helfe, so sicher wie man sich nur sein kann.“ Im Stillen dachte ich allerdings bei mir „Fresst Dämonengold, ihr gierigen Säcke!“ Er nickte, und auch die anderen beiden schienen sich wieder gefangen zu haben. „So sei es denn. Im Namen des Herren Nandus und der Herrin Hesinde, ich heiße euch als neues Mitglied der Lehrerschaft unserer Fakultät willkommen, Professor Pellisario. Die Sekretaria wird sich um alles weitere kümmern. Und vergesst bitte nicht, in den nächsten Tagen Euren Lehrplan, Eure Stunden und Eure Themen einzureichen, ja? Ihr dürft jetzt gehen.“ Mit einer äußersten inneren Befriedigung ging ich von dannen. Angemessene Gegenleistung… ich würde ihnen schon zeigen, was ich darunter Verstand! Nur würde ich mich wohl jetzt tatsächlich noch hinsetzen und einige schriftliche Ausarbeitungen erstellen müssen um den Formalia Genüge zu tun. Aber das war mir gerade egal. Es fühlte sich an wie ein Sieg! Und wenn dazu Schreibarbeit gehörte, dann würde ich das so hinnehmen. Euphorisch machte ich mich auf den Heimweg.

Zuhause angekommen machte ich mich direkt an die unerwartete Arbeit. Niemand sollte mir vorwerfen, ich würde die gerade eingegangene Verpflichtung nicht ernst nehmen. Das Mittagessen musste ich heute ohne Mutter und Liliana einnehmen, die beiden befanden sich nach Auskunft der Dienerschaft bei der Familie Ulfhart. Was mich wiederum in der nervösen Ungewissheit zurücklies wie dieser Besuch wohl ausgehen mochte. Aber mehr als dies abzuwarten blieb mir ja nicht, auch wenn es mir schwerfiel. Nach dem Essen fragte mich Ulmjescha, ob ich wohl den Nachmittag über selbst nach Nandurin sehen könnte. Mutter hatte ihr, bevor sie gegangen war, aufgetragen einige Besorgungen auf dem Markt und am Hafen zu tun. Das fand ich ungewöhnlich, aber Mutter hatte bestimmt einen guten Grund dafür ausgerechnet Ulmjescha statt eine der Hausdienerinnen zu senden. Das würde ich sie später fragen müssen. Aber natürlich hatte ich kein Problem damit, Nandurin heute bei mir zu behalten, ich wollte ja ohnehin den Tag in der Schreibstube verbringen. Ich bat sie nur eine der Wachen mitzunehmen, da ich mir nicht sicher war wie gut sie sich schon alleine in unserer Metropole zurechtfinden würde. Und falls ihr bei dem Gang ein Ungemach passiert wäre hätte ich es furchtbar gefunden. Sie gab mir zum Abschied ein Küsschen auf die Wange und hüpfte davon, wie es nur kleine Mädchen tun. Sie war einfach ein so bezauberndes, süßes Ding!

So verbrachte ich die nächsten Stunden damit abwechselnd mit Nandurin zu spielen, mir Gedanken über mögliche Nischen im Lehrplan zu machen und abzuwägen, worin ich mich ausreichend kompetent fühlte um den verschiedenen Jahrgangsstufen der Fakultät einen Unterricht anzubieten. Die feinere Ausarbeitung würde ich dann in den nächsten Tagen und Wochen machen, denn ich war mir sicher das meine Stunden nicht ad hoc angesetzt würden. Dazu standen die Pläne üblicherweise zu weit im Voraus fest, es sei denn ich könnte für einen der anderen Magister als Krankheitsvertretung einspringen. Ich suchte mir zunächst also für jedes Ausbildungsjahr ein Thema, das ich als adäquat erachtete. Diese wären da:

1.       Die Sprache als Basis allen Wissens – Garethi und Bosparano in Wort und Schrift

2.       Tränke und Alchemica – von der logischen Natur der Sympathetic

3.       Wohl und Wehe aus der Natur – die Unterscheidung von Heil- und Giftpflanzen nach der Systematik des Folianth der Kreutherkunde

4.       Ursprung und Herkunft unserer Sprache – Einführung in die Imperialen Zeichen und das Aureliani

5.       Magie erkennen und Beurteilen – der Odem Arcanum als Grundlage jeder Clarobservantia

6.       Schmerz und Wohltat – Fulminictus Donnerkeil und Balsamsalabunde im Dienst der Herrschaften

7.       Haut wie Stahl – Armatrutz in der praktischen Anwendung zur Abwehr von Wurfgeschossen

8.       Die Kunst des Stockfechtens – vom Vorteil des defensiven Kampfstils

9.       Der Niederhöllen Abgründe – Theoretische Einführung in die Invocatio und die praktische Nutzung von Bann- und Schutzkreisen

Ich war gespannt, ob dieses Curiculum Interesse bei den Studenten finden mochte und auch den Segen der Spektabilität bekam. Ich wusste ja wie eifersüchtig manche Kollegen ihre Pfründe hüteten und auf ihrem Fachgebiet nicht gerne Konkurrenz sahen. Aber ich wäre sogar im Sinne eines Kompromisses bereit von einzelnen Themen Abstand zu nehmen oder sie zu ändern, um unnötige Konflikte zu vermeiden. Ich würde sehen, was dabei herauskam. Aber im Grunde war ich recht zufrieden mit meiner Auswahl.

So ging der Nachmittag dahin. Die Erste die zurückkam war Ulmjescha. Zuerst nahm ich sie gar nicht wahr als sie, leise wie ein Geist, in meine Schreibstube zur offenen Tür hereinschlich. Das war ja eher ungewöhnlich für mich und zeigte nur, wie sehr ich mich in meine Arbeit vertieft hatte. Erst als Nandurin mit einem fröhlichen „Ulmischa!“ losstürmte um sie zu begrüßen registrierte ich, dass wir nicht mehr alleine wahren. Ich schrieb den gerade begonnen Satz noch zu Ende, um mich dann lächelnd zu ihr umzuwenden, weil ich sie fragen wollte, ob ihre Einkäufe von Erfolg gekrönt waren. Aber als ich sie sah stutzte ich. Sie hatte im Gegensatz zu ihrer sonst immer fröhlichen Art einen bedrückten, ja regelrecht besorgten Gesichtsausdruck, so als würde sie sich vor irgendetwas fürchten oder hätte Angst bestraft zu werden. Ich runzelte die Stirn, konnte mir jedoch nicht denken was sie hatte. „Komm einmal her meine Süße,“ sagte ich sanft um sie zu beruhigen, drehte mich nun ganz um und breitete die Arme zu ihr aus. „Ich kann sehen das dich etwas bedrückt. Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst. Ist etwas passiert heute Nachmittag?“ Vielleicht hatte sie die falschen Sachen gekauft? Sich trotz der Wache das Geld stehlen lassen und fürchtete sich nun davor von Mutter gescholten zu werden? Mit großen, traurigen Augen kam sie zu mir und kuschelte sich in meine Arme. Anscheinend fiel es ihr schwer die richtigen Worte zu finden.

„Herr… Victor,“ so förmlich redete sie mich normal nie an, wenn wir unter uns waren, ich wunderte mich doch sehr, „du weißt doch, dass ich in Festum auf der Straße gelebt habe, bevor ich mit Dir gegangen bin?“ Natürlich wusste ich das und nickte bestätigend, deswegen musste sie doch nicht sorgen. „Ja, ich weiß. Und das ist nichts wofür du dich schämen müsstest, diese Zeit ist jetzt vorbei,“ versuchte ich ihr Mut zu machen. Da war es, der erste schwache Anflug dieses süßen Lächelns das ich so an ihr mochte. „Ja, also… ich habe da in Festum auch ein paar Sachen mitbekommen… die vielleicht nicht jeder kennt.“ Immer noch viel es ihr anscheinend schwer direkt mit dem herauszurücken, was sie bedrückte. Ich nickte nur noch einmal um ihr zu zeigend das sie fortfahren sollte. „Und, also… das Schatzhaus, das Dein Vater extra für die Sachen aus dem Dschungel hat…“ Stimmt, darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, wo dieser immense Reichtum jetzt eigentlich lagerte. Irgendwie war ich davon ausgegangen er wäre im Kontor oder vielleicht hier irgendwo im Haus. Und woher wusste eigentlich Ulmjescha dann davon? Die Kleine schien mehr mitzubekommen als man gemeinhin annehmen würde. „Ja, was ist damit?“ tat ich so, als wüsste ich genau wovon sie sprach. „Also, auf dem Haus habe ich Zeichen gesehen als wir auf dem Weg zum Markt daran vorbeigelaufen sind. Also solche, die man versteckt anbringt. Um zu zeigen, dass sich da ein Einbruch lohnen würde. Meine Freunde haben das immer die Worte des Fuchses genannt. Ich glaube, man will euch beklauen.“ Und dabei machte sie noch seltsame Bewegungen mit ihren Händen. Gerade stritten sich zwei konträre Gefühle in mir. Zum einen die Überraschung ob dieses unerwarteten Talents meiner kleinen Ulmjescha – Andererseits die Empörung und Sorge darüber, dass jemand es wagen könnte sich an unserem, meinem, Eigentum zu vergreifen. Das würde ich natürlich in keinem Fall zulassen. „Und du bist Dir ganz sicher, Kleine? Vielleicht sind die Zeichen ja schon ewig an dem Haus?“ Ich sah sie zweifelnd an. Sie schüttelte mit niedergeschlagenen Augen den Kopf. „Nein, ich denke die waren neu. Hell in den grauen Stein gekratzt, rechts unten neben dem Türrahmen, halb verdeckt von einer Sitzbank für die Wachen. Ich habe es auch nur zufällig gesehen, weil unter der Bank so ein süßes Kätzchen gelegen hat.“ Ich streichelte ihr über das weiche Haar. „Also gut. Dann will ich mich einmal darum kümmern meine Süße. Danke, dass du so aufmerksam bist. Passt du auf Nandurin auf? Es könnte heute bei mir später werden, wenn du recht hast…“ Sie sah mich wieder mit einem Blick zwischen Freude über das Lob und Zweifel an. „Aber wenn ich mich doch täusche? Wenn gar nichts ist?“ Ich ließ meine Hand an ihrer Wange ruhen. „Dann hast du auch nichts falsch gemacht. Es ist mir lieber du vertraust dich mir an, selbst wenn es vielleicht nicht gestimmt hat. Ich will es mir selbst ansehen, auch wenn ich diese Zeichen nicht lesen kann, und auf dein Urteil vertrauen. Außerdem kenne ich jemanden, der mir dabei sicherlich wird helfen können.“ Dabei dacht ich an den gefallen, den mir die Phexkirche noch schuldete. Ich erhob mich, drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und entließ sie dann aus meinen Armen. Ich machte mir ernsthafte Sorgen. Wenn das tatsächlich stimmte würde ich Vater davon unterrichten müssen. Nein, ich müsste ihm auf jeden Fall davon erzählen, ich wusste ja nicht einmal welches Haus genau gemeint war!

Als er kurz darauf zum Abendessen heimkam waren Mutter und Liliana immer noch nicht zurück, hatten aber einen Sklaven mit der Botschaft geschickt, sie würden auch die letzte Mahlzeit des Tages noch mit den Ulfharts einnehmen da es so viel zu besprechen gab. Ich nahm Vater beiseite, noch bevor er sich in sein Arbeitszimmer verkrümeln konnte und erzählte ihm, was ich von Ulmjescha erfahren hatte. Sein Gesichtsausdruck war weit weniger geschockt als ich es erwartet hätte und er sah mir das wohl an. „Was dachtest du denn, Junge? Das dies das erste Mal wäre, das sich jemand an unserem Besitz vergreifen will? Oder dass ein solcher Reichtum nicht auch Anderer Begehrlichkeiten weckt? Das Schatzhaus ist eigentlich gut genug geschützt. Aber wenn die Gefahr so konkret sein sollte wie du sagst… dann wäre es wohl angebracht, die Maßnahmen noch einmal zu verstärken. Dein Bruder Bal kennt sich mit dieser Art Zeichen etwas aus, vielleicht kann er uns das bestätigen was die Kleine erzählt hat. Ich werde ihn direkt einmal losschicken.“ Ich nickte nachdenklich. Meine unzähligen Halbgeschwister hatten Fähigkeiten, die ich gar nicht alle kannte. „Und eine Hand voll zusätzlicher Wachen wird die nächsten Tage sicher auch nicht schaden. Die freie Schicht auf unserem Anwesen wird sicher nichts gegen ein paar Überstunden einwenden.“ Das beruhigte mich etwas, aber noch nicht vollständig. „Vater, ich würde ebenfalls gern in dem Lager mit Wache halten. Nur zur Sicherheit. Bis etwas passiert ist oder wir anderweitig davon ausgehen können,“ ich hatte da schon einen Plan, „dass die Gefahr gebannt ist.“ Nun war es an ihm zu nicken. „Ich habe sicher nichts dagegen, wenn du dich auf diese Art nützlich machst. Also gut. Dann gehst du direkt mit Deinem Bruder zum Lager. Ich werde Euch die Wachen nachsenden.“ Und so taten wir es auch.

Es dauerte nur kurz meinen Halbbruder Bal aufzutreiben. Vater hatte ihn in einem Anflug von Schelmerei nach dem ehemaligen Patriarchen Bal Honak benannt – und es hatte sich als treffend erwiesen. Denn er besaß ungefähr genauso viel Humor wie der ehemalige Patriarch der Boronkirche. Daher war er mehr als geeignet unsere Hauswachen anzuführen, auch wenn er vier Jahre jünger war als ich. Aber einen grimmigeren, zuverlässigeren und besser ausgebildeten Beschützer als ihn hatte ich selten gesehen. Damit, und den familiären Banden, machte er wett was ihm an Erfahrung noch mangelte. Eine gemietete Klinge mochte sich gegen einen wenden – ein humorbefreiter Sohn vermutlich eher weniger. Wieder einmal bewunderte ich Vater für sein Talent die passenden Aufgaben für andere Menschen zu finden. Wir eilten so schnell wir konnten durch das abendliche Al’Anfa. Noch war die Dämmerung nicht hereingebrochen, aber lange würde es auch nicht mehr dauern. Vor Ort angekommen nahmen wir zuerst die Stelle des Hauses in Augenschein, an der Ulmjescha die Zeichen, mein Bruder nannte sie Zinken, gesehen haben wollte. Es stimmte. Dort, in den grauen Stein gekratzt, und das offensichtlich noch nicht allzu lange, denn Moos, Belag oder Verschmutzung war keine zu erkennen, sah ich eine waagerechte Linie, gekreuzt von drei Senkrechten, daneben ein X gefolgt von 5 in zwei Reihen übereinander angeordneten Kreisen. Mein Bruder nickte ernst und bestätigte, was Ulmjescha schon gesagt hatte. Irgendwer hatte es anscheinend auf dieses Haus abgesehen und er meinte, es dürfte auch nicht in allzu ferner Zukunft sein. Wenn hier jemand etwas als fette Beute gekennzeichnet hatte, dann würde er es sich sicher nicht entgehen oder von jemand anderem wegnehmen lassen. Ich kannte das Haus, hatte aber bisher immer angenommen es wäre ein Ausweichlager, wenn das Kontor übervoll war. Dann wären hier auch einmal größere Mengen einfacher Waren wie Getreide oder Sachen gelagert, die wir in den nächsten Tagen direkt wieder verschiffen wollten. Zumindest war es das, was Vater seinen Partnern stets zu erzählen pflegte, der gerissene Hund. Wir gingen hinein um nicht vor der Tür gesehen zu werden und uns zu beraten. Wenige Minuten später trafen auch die vier versprochenen Wachen aus der Villa ein und machten es sich im Inneren gemütlich. Den Schatz sah jedenfalls nicht herumliegen, nur haufenweise andere, gewöhnliche Waren. Mein Halbbruder nahm mich zu Seite damit nicht jeder mithören konnte. Er deutete auf einen Stapel Tuchballen in der Ecke. Darunter befände sich eine schwere, eiserne und gesicherte Falltür hinunter in ein stabil gemauertes Kellergewölbe. Selbst der Zugang sei noch einmal speziell mit zwei Fallen nachträglich gesichert worden. Vater wollte nichts dem Zufall überlassen, was mich doch sehr beruhigte. Trotzdem, man musste es ja nicht unbedingt darauf ankommen lassen, oder?

Wie sollten wir also Vorgehen? Ich stellte zur Diskussion, ich könnte einen Wächterdämon herbeirufen, der sich dann der Einbrecher annahm. Das wäre zwar Aufwendig, würde aber sicherlich Eindruck hinterlassen. Und wenn wir einen der Diebe entkommen ließen und sich dies rumsprach mochte es durchaus geeignet dazu sein, mögliche Nachahmer abzuschrecken. Immerhin lehnte mein Bruder diesen Vorschlag nicht rundheraus ab, sondern erwog ihn ernsthaft. Natürlich bestand immer das Risiko, dass auch etwas schief ging, selbst wenn ich mir meiner Fähigkeiten dabei sehr sicher war. Aber beim Chaos der Niederhöllen konnte man unvorhergesehene Zwischenfälle nie völlig ausschließen, auch wenn ich das für Außenstehende gern behauptete. Ein Restrisiko bestand immer, selbst wenn es nur ein kleines war. In diesem Fall bestand also das Risiko einen marodierenden Dämon mitten in der Stadt loszulassen – vermutlich hätte das den Dienern Borons kaum gefallen. Es machte doch einen Unterschied ob ich nur mich selbst und vielleicht eine Hand voll Begleiter, die sich zudem darauf verstanden sich im Notfall zur Wehr zu setzen, diesem Risiko aussetzte, oder die Passanten auf der Straße und Bewohner der umliegenden Gebäude. Ein Hesthot wäre sicher nicht das Problem gewesen, den hätte ich zur Not auch mit meinem Bruder wieder unter Kontrolle gebracht. Aber hätte der gereicht die Diebe zu schrecken und zu töten? Ich hätte ja lieber auf einen Shruuf gesetzt, der auch für den Dienst zur Wache besser geeignet war. Hesthot – suchen und vernichten oder Kampf. Stumpfe Wache mochte der Kuttenträger nicht besonders gern. Aber ein amoklaufender Shruuf in der Stadt. Das würde sicher zu unangenehmen Fragen führen… also verwarf ich diese Möglichkeit zunächst.

Am Ende einigten wir uns darauf, dass es am einfachsten wäre den Dieben eine Falle zu stellen. Die zusätzlichen Wächter sollten sich hier im Lager verstecken während draußen alles wie immer wirken sollte. Die Wache vorn am Tor würde auf der Bank sitzen, die zwei Wachen am Dach ihre Runden drehen. Nur der Wächter an der Pforte hinten hatte eine besondere Aufgabe. Er würde einen Krug Brandwein bekommen und so tun als würde er dort seinen Rausch ausschlafen. Trotzdem sollte die Tür verschlossen sein, denn wäre sie offen könnte das dann doch zu verdächtig einladend wirken. Der Rest würde sich dann schon ergeben. Ich rechnete nicht mit einer unüberwindbaren Horde hochgerüsteter Schlagetots die wir nicht überwinden konnten. Und wenn doch… dann war immer noch genug Zeit für einen Dämon! Alles nötige hätte ich bei Bedarf dabei.

Die Schurken ließen uns ganz schön lange warten. Nicht anders als ich es selbst gemacht hätte. Erst weit nach Mitternacht, wenn üblicherweise die letzte Wache zum Dienst antrat oder schon übermüdet war, tat sich etwas. Auch Bal und ich hatten uns drinnen versteckt. Er am Haupttor, ich auf der Treppe zum oberen Stock. Das Innere des Lagers war nur spärlich von einigen wenigen heruntergedrehten Laternen erleuchtet – Öl sparen und die Brandgefahr mindern, wie mein Vater es nannte. Ich konnte daher kaum etwas sehen. Dafür hörte ich es irgendwann. Ein schabendes Kratzen am Türschloss, so als würde dort jemand etwas ins Schloss schieben das nicht der passende Schlüssel war. Das Schloss war sicher nicht das schlechteste. Aber für jemand der sein Handwerk mit dem Alrik verstand wohl auch kein unüberwindbares Hindernis. Da würde ich Vater empfehlen doch noch einmal etwas mehr Geld zu investieren. Am besten gleich inklusive einer stabileren, eisenverstärkten Tür. Das Kratzen verstummte. Ich konnte nicht sehen oder hören ob die Tür vorsichtig geöffnet wurde, aber ich spürte einen sachten Lufthauch auf der Wange. Ein dämonisches Grinsen schlich sich in mein Gesicht. Diese Hunde würden gleich eine Überraschung erleben. Der Lufthauch verklang, so als hätte jemand die Tür wieder zugezogen. Das sie ins Schloss fiel war nicht zu vernehmen, vielleicht angelehnt? Ich meinte ein unverständliches Wispern zu hören. Sehen konnte ich immer noch nichts, deswegen wartete ich. Ich zählte meine Herzschläge. 30, 35, 40, 45… Dann passierte das, was wir mit der „schlafenden“ Wache vereinbart hatte. Mit einem lauten Knall, der sogar mich fast erschreckte obwohl ich ihn erwartet hatte, wurde die hintere Pforte zugeschlagen. Der Wächter würde nun draußen mit seinem ganzen Gewicht dagegen lehnen um den Dieben den Fluchtweg zu versperren. Innerhalb eines Wimpernschlags entfachte ich die Fackel meines Stabes und auf einmal war das Lager mit genug Licht erfüllt, dass man etwas sehen konnte.

Vier abgerissene Gestalten in etwas mehr als bloße Lumpen gehüllt standen im Raum, sahen sich panisch um und einer schrie noch „Scheißeverfluchterdämonendreck, ne Falle!“ Die nächsten Dinge geschahen nahezu gleichzeitig. Die Wächter waren mit gespannten Armbrüsten aus ihren Verstecken getreten, legten an und vier Bolzen streckten den größten der Kerle nieder. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er diese Salve auf kürzeste Distanz überlebt hätte. Dann zogen die Wächter ihre Säbel. Einer der überlebenden Einbrecher stürzte zurück zur Hinterpforte, warf sich dagegen und prallte an der von außen blockierten Tür zurück wie einer der Kautschukbälle die Nandurin manchmal warf. Die beiden verbliebenen Vermummten zückten im Fackelschein glitzernde Dolche und blickten sich panisch um, standen Rücken an Rücken. Von der Treppe her donnerte ich mit meinem besten Befehlston: „Legt die Waffen weg und ergebt Euch, oder bei Kor ich schwöre Euch, keiner von Euch wird diesen Ort lebend verlassen“. Nicht das ich dies tatsächlich in Erwägung zog. Mein Halbbruder Bal lies von der Seite her seine Peitsche mit einem lauten Knall meine Worte unterstreichen. Der Gestürzte rappelte sich auf und zog sich zu seinen Mitverschwörern zurück. Diese hatten anscheinend genug gesehen um die Aussichtslosigkeit ihrer Lage zu erkennen. Vier gut bewaffnete und gerüstete Wächter, ein grimmiger Aufseher und ein kleiner Mann in finsterer Robe. Ja, ich hatte für den bedrohlicheren Effekt heute extra das dunkle Gewand angelegt. Langsam ließen sie ihre Dolche sinken und legten diese zu Boden während sich unsere Wächter ihnen im Kreis näherten und sie schließlich auf die Knie zwangen. Ihr toter Kamerad wie eine Mahnung direkt vor ihren Augen. Verzweiflung stand in ihre Gesichter geschrieben.

Eigentlich hätte ich sie direkt an Ort und Stelle alle drei enthaupten lassen sollen. Es hätte auch niemand interessiert, hätte man ihre Körper am Morgen im Hafen treibend gefunden. So ungewöhnlich war das in dieser Stadt nicht. Aber während wir gewartet hatten, hatte ich einen anderen Gedanken gefasst. Ich deutete meinem Halbbruder an er solle mich reden lassen, ging zu den traurigen Figuren und zog ihnen die Kapuzen vom Kopf. Ein pockennarbiger Kerl undefinierbaren Alters, vielleicht 30 oder 40 Götterläufe, mit vom Rauschkraut verlebten Gesicht. Ein Bursche, älter als ich aber vermutlich noch keine 30 Sommer, der vor Panik schwitzte und stank, als hätte er sich gerade vor Furcht eingeschissen. Und ein junges Mädchen, sie mochte 15 oder 16 sein und wäre mit ihrer Stupsnase und den hohen Wangen vielleicht sogar hübsch gewesen, hätte sie nicht völlig verfilztes Haar und noch alle Zähne gehabt. Ich beugte mich bedrohlich nach vorne und bemühte mich die Rolle als böser, herzloser Magier möglichst glaubhaft zu spielen. „Ihr seid in schurkischer Absicht widerrechtlich in dieses Haus eingebrochen. Was wir mit Dieben tun seht ihr hier vor Euch.“ Ich trat dem Toten in die Seite. „Aber vielleicht habt ihr noch eine Gelegenheit Eure armseligen Leben zu retten. Ich werde jedem von Euch zwei Fragen stellen. Bedenkt Eure Antwort wohl, Euer Leben hängt davon ab…“ ich grinste sardonisch. Das mir die Situation nicht sogar Spaß machte konnte ich nicht einmal behaupten. Eigentlich hätte ich gern den Toten vor ihnen mit einem Skeletarius erhoben nur um ihnen noch mehr Angst zu machen. Aber dazu waren zu viele Zeugen Anwesend. Ein falsches Wort zu den Boroni… nein, keine gute Idee! Die drei Jammergestalten schienen auch so schon genug Angst zu haben, außer vielleicht der Pockennarbige, der mich trotzig ansah. Mit dem würde ich also beginnen. „Du!“ Dabei deutete ich auf ihn. „Sprich, in wessen Namen seid ihr hier eingebrochen, wem dient ihr?“ Er wagte es tatsächlich vor mir auszuspucken. „Als wenn ich Dir irgendwas erzählen würde. Verreck doch, Finstermann.“ Ich beugte mich näher an ihn heran und roch seinen sauren Atem. „Du willst nicht reden, Hundsfott? Dann sollst du mit der zweiten Frage die Wahl haben: Dein Kopf, deine Hand oder Sklaverei auf der Galeere? Du siehst, ich bin gnädig, ich lasse es dich sogar selbst entscheiden…“ Wieder spuckte er aus, diesmal auf meine Stiefel. Ich wich angewidert zurück als er mir zornig entgegenschleuderte. „Friss doch Dreck du Pisser. Als wenn ich vor einem wie dir das Knie beugen würde. Und ohne Hand bin ich auf der Straße sowieso so gut wie tot.“ Er funkelte mich hasserfüllt an. Er hatte es nicht anders gewollt als das Exempel für seine Begleiter zu sein, oder? Ich machte mit der Hand eine schneidende Bewegung in Richtung des am nächsten stehenden Wächter der offensichtlich genau verstanden hatte was ich meinte, mit seinem Säbel ausholte und Augenblicke später rollte der abgetrennte Kopf des Diebs mit weit aufgerissenen Augen vor meine Füße. Ein roter Regen aus Blut spritzte aus dem Stumpf des Halses auf seine Gefährten. Der Geruch nach Scheiße wurde noch ein Stück intensiver. Das Mädchen begann zu schluchzen und zu weinen. Ich wand mich dem verbliebenen Mann zu. „Du!“ Auf Grund des Gestanks ging ich lieber nicht näher an ihn heran. „Sprich, in wessen Namen seid ihr hier eingebrochen, wem dient ihr?“ Er sah mich aus gebrochenen Augen an. „Ich weiß nicht, wirklich. Toran dort,“ sein Kopf zuckte in Richtung des von Armbrustbolzen gelöcherten, „hat gemeint es würde sich für uns lohnen hier einzusteigen. Ich bin doch nur mitgekommen um mir was zu verdienen Herr, wirklich. Gnade, habt Gnade!“ Seine Stimme hatte einen hohen, kreischenden Ton angenommen. „Auch du willst nicht reden? Denkst du, ich glaube einem dreckigen Dieb wie dir? Dann sollst auch du mit der zweiten Frage die Wahl haben: Dein Kopf, deine Hand oder Sklaverei auf der Plantage? Du siehst, ich bin gnädig…“ Sein panischer Blick zuckte zu dem geköpften Körper, dann sackten seine Schultern zusammen. „Plantage…“ hörte ich ihn flüstern. Ich nickte dem Wächter zu, der ihn auf die Füße riss und wegführte. Etwas Braunes tropfte aus seinen Beinkleidern. Dann wand ich mich dem Mädchen zu, das mittlerweile unkontrolliert heulte. „Du!“ herrschte ich sie an. „Sprich, in wessen Namen seid ihr hier eingebrochen, wem dient ihr?“ Ich erwartete nicht wirklich eine Antwort von ihr. Aber sie überraschte mich. „Senor, ich bitte euch, habt Erbarmen mit mir.“ Ihre Worte waren unter ihrem Heulen fast nicht zu verstehen. „Ich diene doch einzig dem Herrn Phex, nur in seinem Namen bin ich hier.“ Mir lag die zweite Frage schon auf der Zunge als ihre Worte zu mir durchdrangen und ich die Wache zurückwinkte. „Sag das noch einmal, Mädchen,“ forderte ich sie auf. Und das von mir zu einer Frau die keine 10 Jahre jünger als ich war und kaum älter sein dürfte als das Mädchen, das ich bald heiraten würde. „Edler Herr, ich bin doch nur eine unbedeutende Dienerin des göttlichen Fuchses. Ich weiß, Phex schützt nur die seinen, die sich nicht erwischen lassen und verstößt seine Kinder, die versagen. Aber könnt ihr nicht in seinem Namen erbarmen zeigen?“ Ich meinte so etwas wie verzweifelte Hoffnung in ihrer Stimme zu hören als sie mich mit ihren traurigen, von Tränen rot unterlaufenen Augen flehend von unten ansah. Verdammt sei mein weiches Herz, wenn es um Frauen ging. Ich würde es nicht über mich bringen dem armen Ding den Kopf oder die Hand abschlagen zu lassen. Ich knirschte mit den Zähnen, als mir ein Gedanke kam. Vielleicht gab es noch einen anderen Ausweg, der mich in den Augen meines humorlosen Bruders und der Wächter nicht wie einen kompletten Idioten dastehen lassen würde.

„Steh auf!“ befahl ich ihr. Mit zitternden Knien erhob sie sich. „Du wirst jetzt mit uns kommen,“ ich deutete auf meinen Bruder, der mich verblüfft ansah, „und solltest du versuchen wegzulaufen oder uns ärger zu machen verspreche ich dir, dass dich die Dämonen der Niederhöllen zerreißen werden, ehe du ein Dutzend Schritt gemacht hast…“ „Ja Herr, ich verspreche, ich werde euch keine Schwierigkeiten bereiten.“ Schicksalsergeben trottete das Mädchen zwischen meinem Bruder, der sie trotzdem vorsorglich am Arm gepackt hatte, und mir hinaus in die Nacht. Sie wusste nicht wohin es gehen würde, genauso wenig wie mein Bruder, der immer wieder fragend zu mir hinübersah. Aber sie war immerhin noch nicht tot. Das schien ihr ein wenig Hoffnung zu geben. Die Passanten, die durchaus noch unterwegs waren, warfen uns seltsame Blicke zu, aber keiner wagte es sich einzumischen. Niemand mischte sich in Al’Anfa freiwillig in die Angelegenheiten von Männern in schwarzer Robe ein, seien es Boronis oder Magier. Nur Fremde oder Verrückte taten das. Durch die dunklen Straßen steuerte ich die beiden bis wir schließlich mein Ziel erreichten. Die offene Hand, den Tempel des Phex. In den Augen des Mädchens spiegelten sich Erkennen und die wachsende Hoffnung.

Als wir eintraten legte ich ein Silber in die kleine Schale und bat den anwesenden Schatten dem Vogtvikar mitzuteilen, dass ich ihn sprechen wollte. Ich hätte natürlich auch einfach nach hinten gehen können, schließlich wusste ich wo er seine Gemächer hatte. Aber ohne Einladung oder Aufforderung den rückwärtigen Teil des Tempels zu betreten wäre unhöflich gewesen. Neugierige Blicke anderer Gläubiger streiften uns und wurden schnell abgewendet, wenn ich in ihre Richtung sah. Der Schatten kam kurz darauf zurück und hieß uns ihm zu folgen. Er brachte uns nicht in die Gemächer des Vogtvikars, sondern in einen kleinen Raum mit Tisch in dem vermutlich ansonsten Geschäfte abgewickelt wurden. Nun, auch das schien mir passend für mein Anliegen. Vogtvikar Garon Davida erwartete uns bereits und als er mich erkannte kniffen sich seine Augen etwas zusammen, mehr ließ er sich aber auch nicht anmerken, als er uns bat Platz zu nehmen. Ich hob direkt an zu sprechen, es würde nichts bringen hier um den heißen Brei herumzureden. „Eure ehrwürdige Gnaden, verzeiht die Störung zu so später Stunde. In eines der Lagerhäuser meines Vaters ist eingebrochen worden. Diese dort“, ich zeigte auf das Mädchen, „und drei weitere Kumpanen haben versucht meine Familie zu berauben. Zwei sind tot, einer wird seine Zukunft auf der Plantage meiner Familie verbringen.“ Er nickte nur, war es wohl gewohnt das sich die Handelsherren bei ihm beschwerten, wenn wieder einmal ein Einbrecher zugeschlagen hatte. „Wie ihr seht, ist diese Sache an sich schon geregelt, bedürfte also nicht Eurer Aufmerksamkeit. Ich hielt es jedoch für angemessen euch zu informieren, da an einem der möglichen Ziele der Dieberei der Herr Phex bereits seinen gerechten Anteil erhalten hat, ja ich will meinen auch sein Erwerb unter dem doppelten Segen des Fuchses stand.“ Der Vogtvikar schien zu verstehen was ich ihm sagen wollte, ließ sich aber wieder nichts anmerken, bevor er erstmals das Wort ergriff. „Selbst wenn dem so ist, warum schleppt ihr mir dann dieses Gossenmädchen ins Haus des Herren, wenn ihr die Sache doch schon selbst geregelt habt, wie ihr sagtet?“ Ich deutete auf das Mädchen, das auf seinem Stuhl zusammengesunken war. „Diese dort schien die Einzige zu sein, die ein kleines bisschen Verstand zu besitzen schien. Sie hat sich auf den Herren der silbernen Sterne berufen, als es daran ging über ihr Schicksal zu entscheiden. Ich hätte es daher ungerecht gefunden, ihr ebenfalls einfach den Kopf von den Schultern schlagen zu lassen. Erzähl ihm was passiert ist, Mädchen.“ Und sie erzählte. Stockend, mit brüchiger Stimmte, aber sie erzählte. Zwar aus meiner Sicht nicht alles zutreffend, das mochte an ihrer Perspektive liegen dich sich ja eklatant von der meinen Unterschied, aber im Kern so wie es gewesen war. Der Vogtvikar hörte zu, ließ seinen Blick zwischen ihr und mir hin und her wandern bis sie geendet hatte und hob dann an. „Doch heißt es nicht, hilf dir selbst, dann hilft dir Phex? Warum sollte mich das Schicksal dieses Welpen kümmern, wenn sie versagt hat? Das Mädchen hatte wieder begonnen zu zittern. Ich jedoch konnte in seinen Augen sehen, dass er seine Worte im Herzen gar nicht so meinte, wie er sie sagte, als ich das Spiel mitspielte und erwiderte. „Oh, ich erwarte gar nicht von Euch, dass Euch ihr Schicksal etwas bedeutet. Ich wollte euch ganz im Gegenteil einen Handel anbieten. Ich lege das Leben dieses Füchschens in Eure Hände. Dafür lasst ihr unter den Füchsen, Mungos und Fledermäusen der Stadt verlauten, dass das Haus meines Vaters unter dem Schutz des göttlichen Fuchses steht und ihr es nicht gern sehen würdet, wenn einer seiner Diener dies missachtet. Bedenket noch einmal, Phex hat seinen gerechten Anteil an dieser Ware schon erhalten…“ Einige stumme Augenblicke wog der Vogtvikar meine Worte ab. Dann lachte er, schlug mit der Hand auf den Tisch und zauberte vier Weinbecher und einen Krug hervor. „Herr Pellisario, jedesmal wenn wir uns wiedersehen gefallt ihr mir mehr. Wirklich, manchmal glaube ich, ihr habt Euch der falschen der Zwölfe verschrieben…“ Er schenkte uns ein und gab sogar dem Mädchen mit den Worten „Trink, bevor du noch vom Stuhl fällst,“ einen der Becher. Dann stieß er mit mir und meinem Bruder an. „Abgemacht. So soll es sein. Das Leben dieses Füchschens gegen einen kleinen Gefallen. Ich kann euch nicht versprechen, dass sich alle zwielichtigen Gestalten der Stadt daran halten werden. Aber wenigstens die mit ein wenig Gottesfurcht oder zumindest Verstand werden den Wink wohl verstehen… Aber dieser Zustand wird nur vorübergehend sein. Irgendwann ist doch jedes Goldstück doch schon einmal durch die Krallen des göttlichen Fuchs gegangen. Meine Worte an die Gemeinschaft der Phexkinder soll andauern, solange Eure Familie benötigt das nötige Moratorium für die Erstellung des neuen Hauptgeschäftes abzuschließen. Wenn ihr aber das Geld im Sinne des Herrn Phex einsetzt, soll es nicht nur seinen offenen, sondern auch seinen verborgenen Dienern nicht verboten sein.“ er nahm einen kräftigen Schluck und ich tat es ihm gleich, bevor er zu dem Mädchen Gewand fortfuhr. „Und Du, Kind, schuldest dem Herren Phex mehr als nur einen kleinen Gefallen. Sei gewiss, er wird ihn irgendwann einfordern. Wenn dich irgendwer fragt was geschehen ist wirst du deine Geschichte erzählen, vom bestens geschützten Lagerhaus. Das dort nicht nur Wachen ihre Runden ziehen, sondern sogar finstre Zauberer und ihre unheimlichen, kalten Diener. Du hast ja dann noch nicht einmal gelogen… ich will das der nächste, der sich einen Einbruch in dieses Haus überlegt, bereits vorher vor Angst ins Beinkleid pinkelt. Hast du das verstanden?“ Sie nickte so heftig das ich Angst hatte ihr Kopf könnte ihr vom Hals fallen. Er sah wieder zu mir. „Wirklich Herr Pellisario, der Götter Willen ist doch unergründlich, warum sie ausgerechnet Eure Schritte immer aufs Neue zu mir lenken… würde ich eine Wette abschließen müssen, ich täte daraufsetzen, dass wir uns noch nicht das letzte Mal gesehen haben…“ Meine Stimmung war mittlerweile wieder hervorragend, nur mein Halbbruder machte immer noch ein sauertöpfisches Gesicht. „Euer Ehrwürden, in dieser Sache würde ich nicht wagen gegen euch zu wetten. Ich danke Euch für eure Zeit und euer Verständnis. Erlaubt das wir euch nun verlassen, mein Herr Vater wartet sicher schon auf Nachricht von uns.“ Damit verbeugte ich mich und wir machten uns auf den Weg zurück zur Villa.

Tatsächlich wanderte Vater noch wie ein nervöser Panther in seinem Arbeitszimmer auf und ab als wir ankamen. Die Nacht war mittlerweile fast vorbei. Ich berichtete ihm in aller gebotenen Kürze was geschehen war und insbesondere von meiner Abmachung mit der Phexkirche.  Er musterte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. „Manchmal, Victor, glaube ich du hast doch mehr von mir als wir immer gedacht hatten. Seit wann kannst du so verschlagen und geschäftsmäßig sein? Nein, du brauchst nicht Antworten… jetzt kann ich wenigstens beruhigt zu Bett gehen. Und Bal, du kümmerst dich morgen direkt darum, dass die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal verstärkt werden, ja? Die Türen werden verstärkt. Und ich will zusätzlich ab sofort Hunde in dem Lager. Und das Bestechungsgeld an die Stadtwache wird erhöht. Ich will mindestens jede Stunde eine Streife um das Haus sehen! Und für die Falltür will ich auch ein neues Schloss. Lass die Zwerge das beste einbauen, dass sie überhaupt zustande bringen.“ Damit entließ er uns und auch ich machte mich auf ins Bett. Meine Ruhe dürfte ohnehin nur kurz sein. Eigentlich lohnte es sich gar nicht, sich noch hinzulegen. Ich tat es aber doch.

Mein Schlaf war kurz und unruhig. Ich träumte von einem lachenden Fuchs, der mich immer wieder spielerisch in die Waden biss, ich ihn aber nie zu fassen bekam. Ich dämmerte hoch von vier kleinen Händen die mich durchschüttelten, aber mein Geist weigerte sich so richtig aus Borons Reich heraufzukommen. „Dada nicht aufwachen,“ hörte ich Nandurin fiepsen. „Ulmi, musst wecken. Wie in Geschichte gestern.“ Meinem vernebelten Geist erschloss sich das nicht, ich begann wieder wegzudämmern – dann erwachte ich mit einem Schlag, so als hätte man mir Eiswasser über den Kopf gegossen. Nur das dem natürlich nicht so war, das hätten sie nicht gewagt (bildete ich mir zumindest ein). Nein. Was mich weckte war etwas gänzlich anderes. Ich spürte zarte kleine Lippen die sich auf meinen Mund legten und sich von dort erst wegbewegten, als ich die Augen aufriss und verschlafen auf dem Ellbogen aufrichtete. Ulmjescha sprang, mit einem etwas schuldbewussten Ausdruck im Gesicht, ein Stück zurück. Nur Nandurin quietschte vor Vergnügen und klatschte in die Hände. „Siehst du Ulmi, wie in Geschichte mit Prinzessin! Geht wirklich!“ Als ich den ersten Schreck überwunden hatte musste auch ich lächeln. Natürlich kannte ich diese Geschichte auch, als Kind hatte ich sie oft genug selbst gehört. Ich hatte mich zwar weder an Rosendornen noch einer Spindel gestochen, aber Müde das ich ein Jahrzehnt hätte schlafen können war ich auch. Die beiden Kinder stoben aus dem Zimmer davon und ich schleppte mich hinterher. Ich sollte mehr darauf achten wieder genug Schlaf zu bekommen…

Als ich in den Salon kam war die Familie schon versammelt und hatte zu Essen begonnen. Mutter sah mich an, lächelte jedoch nachsichtig. Sie wusste offensichtlich schon warum ich noch so Müde aussah. Trotzdem fühlte ich eine seltsame Spannung über der Tischgesellschaft liegen. Irgendetwas war im Busch. Ich schaffte es nur nicht einen klaren Gedanken zu fassen, nahm mir eine Scheibe Rosinenbrot und versenkte den vierten Löffel Rohrzucker im Kaffee bevor ich merkte, dass dies vielleicht schon zu viel gewesen sein könnte. Liliana rutschte zappelig auf ihrem Stuhl herum. Einige Minuten gingen mit der üblichen Morgenunterhaltung vorbei, an der ich mich nur wenig beteiligte, bis Mutter ihren Löffel nahm, gegen ihre Kaffeetasse klopfte und uns damit signalisierte, wir mögen ihr doch alle unsere Aufmerksamkeit widmen. „Familie, aufgemerkt.“ Vater schien recht unbeeindruckt. Er wusste vermutlich schon was kommen würde. Ich hob müde den Kopf. Nur um gleich darauf endgültig wach zu sein. „Wir,“ dabei deutete sie auf Liliana, sich selbst und mich, „werden in vierzehn Tagen eine Reise ins Horasreich, zu unseren Handelspartnern nach Bethana, antreten. Es gibt also bis dahin noch vieles vorzubereiten, keine Zeit für Müßiggang. Welche unserer Wächter uns begleiten werden, suche ich mir noch aus. Diesmal werden es mehr als sonst. Lilianas Freundin von den Ulfharts wird uns begleiten. Ihre Mutter und ich haben gestern vereinbart, dass es ihrer Tochter gut tun würde auch einmal über Al’Anfa hinaus etwas von der Welt zu sehen.“ Dabei blickte sie mich mit einem Blick an der sagte „Und wir sprechen uns noch!“ Ich konnte einen Jubelschrei nur schwer unterdrücken indem ich mir den Mund mit meinem Brot vollstopfte. Ulmjescha hingegen blickte Mutter mit einem traurigen und entsetzten Gesichtsausdruck an. Augenblicklich setzte Geschnatter am Tisch ein, dem Mutter noch einmal mit einem Klopfen an ihre Tasse Einhalt gebot. „Ich habe nicht gesagt, dass ich schon fertig bin! Es gibt noch etwas zu verkünden.“ Neugierig lagen nun aller Augen auf ihr. Was konnte es denn noch geben? „Einige von euch haben es sicher schon gehört. Gestern hat eine dreiste Bande Diebe versucht eines unserer Lagerhäuser zu Plündern.“ Aha, darum ging es also. Ich lehnte mich zurück, diese Geschichte kannte ich ja schon. „Dank Victor und Bal,“ sie deutete auf uns, „konnte das Vorhaben vereitelt werden. Das habt ihr gut gemacht, Jungs.“ Bal streckte sich ob des Lobes und auch ich konnte es mir nicht verkneifen mich ein wenig aufzurichten. „Nichtsdestotrotz, hätten wir davon nicht vorher erfahren wäre es vielleicht ganz anders gekommen.“ Was hatte Mutter jetzt schon wieder vor? „Ulmjescha, Kind, komm doch einmal zu mir.“ Ulmjescha näherte sich schüchtern und vorsichtig meiner Mutter. „Ja, Herrin?“ Mutter legte ihr die linke Hand freundlich auf die Schulter. „Ich wollte mich bei dir bedanken, Kind, dass du so aufmerksam warst. Ohne dich hätte alles viel schlimmer kommen können. Ich denke, du kannst zu mehr nütze sein als nur zum Kinderhüten. Und es soll niemand behaupten die Pellisarios würden jenen die loyal und zuverlässig zu ihnen stehen etwas schuldig bleiben. Zum Dank für deine Tat wirst Du uns auf die Reise ins Horasreich begleiten.“ Ha, als wenn wir das nicht eh schon ausgemacht hätten. Mutter verkaufte es einfach nur bestmöglichst! Ulmjescha hingegen, die davon nichts wusste, machte artig einen Knicks um sich zu bedanken und strahlte nun über das ganze Gesicht. „Und ich werde dir noch eine Ehre zuteilwerden lassen, Kind.“ Jetzt war ich gespannt. „Du musstest ja bisher immer in Nandurins Zimmer schlafen und hattest keinen Platz für dich. Das werden wir ändern. Du bekommst eine eigene Kammer, so wie sonst nur unsere wichtigsten Bediensteten, wie der Majordomus oder die Küchenmeisterin. Na, was sagst du dazu?“ Ulmjescha schluckte vor Überraschung und brachte gerade noch ein „Danke Herrin“ heraus. Von meiner Seite hörte ich ein erschrockenes „Ulmi nicht weggehen!“ von Nandurin, der vermutlich nicht alles richtig verstanden hatte. Und an Ulmjeschas Gesicht sah ich, dass sie überhaupt keine eigene Kammer haben wollte, sondern viel lieber weiter bei uns schlafen würde, große Ehre hin oder her. Oh Travia, das konnte ja noch heiter werden. Was hatte Mutter sich nur dabei gedacht? Vermutlich mehr als ich ahnen konnte. Hatte ich nicht in letzter Zeit immer wieder gemerkt, dass sie stehts mehr wusste als man meinen wollte? Ich haderte mit mir, ob ich sie deswegen später zur Rede stellen sollte oder nicht. Ulmjescha kam zurück und beruhigte erst einmal Nandurin, der schon den Tränen nahe war. Und ich war immer noch nur schwer in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.

Das Essen war zu Ende und ich hatte Mutters Blick von vorhin schon fast wieder vergessen als sie mich kalt erwischte. „Victor, kommst Du bitte mit Liliana und mir zu einem kleinen Spaziergang in den Garten?“ Oh, da war ja noch etwas gewesen. Ich beeilte mich ihnen zu folgen. „Ich soll Dir einen Gruß von Tsaiane Ulfhart ausrichten, Sohn. Du hättest ruhig erwähnen können das du ihr auf dem Fest ebenfalls begegnet warst.“ Verdammt. Den Teil hatte ich bei der Erzählung für Mutter extra weggelassen. Liliana kicherte hinter mir. „Kein Grund dich zu sorgen. Ich fand es eigentlich ganz amüsant als sie mir erzählt hat, dass sie dich fast verknuspert hätte. Einen schlechten Geschmack kann man ihr ja nicht vorwerfen.“ Ich fand das jetzt irgendwie peinlich es so von meiner eigenen Mutter zu hören. Wieder hatte sie mich aus dem Konzept gebracht. Jedes Mal, wenn sie das tat diente es nur, um irgendetwas anderes vorzubereiten, sie war eine Meisterin darin. Und ich fiel ständig wieder darauf herein. „Wie dem auch sei. Wir haben uns also von Frau zu Frau unterhalten und einige Dinge vereinbart. Hörst du mir überhaupt zu?“ Ich zuckte schuldbewusst zusammen, meine Gedanken waren schon wieder abgedriftet. „Konzentrier dich gefälligst, das ist wichtig. Mit Tsaiane Ulfhart zu verhandeln ist härter als am großen Markt einen neuen Sklaven zu erfeilschen. Das solltest du dir merken für deine Zukunft, du wirst ja irgendwann auch nicht mehr darum herumkommen. Egal. Also pass jetzt auf. Wir müssen natürlich für Visarias Sicherheit bürgen, das ist dir klar. Nicht auszudenken was es bedeuten würde wenn ihr in unserer Obhut etwas zustoßen sollte. Aber darum sorge ich mich weniger. Ich bin mir sicher du würdest eher dein eigenes Leben aufs Spiel setzen bevor du ihr etwas zustoßen lassen würdest, nicht wahr?“ Ich nickte nur. Mutter wusste genau, dass ich nicht nur Visaria sondern auch unsere Familie mit meinem Leben und meiner Seele schützen würde. „Außerdem konnte ich ihr abringen, dass sie uns keine, hast du verstanden, KEINE Hausdame für Visaria mitgeben wird solange wir außerhalb Al’Anfas sind.“ Hatte ich mich da gerade verhört? “Ich erwarte von Dir, dass ihr die Finger voneinander lasst. Zumindest solange wir uns irgendwo in der Öffentlichkeit befinden. Nachdem was Tsaiane erzählte wie sie euch auf dem Ball gefunden hat muss ich dir vermutlich die Finger mit Orazal zusammenkleben! Also versprich mir, dass du dich beherrschen wirst.“ Ich murmelte ein ziemlich lahmes versprechen und hatte dabei ein dümmliches Grinsen im Gesicht, das mir einen Klaps auf den Hinterkopf einbrachte als wäre ich ein kleines Kind. „Du wirst genauso auf die beiden Aufpassen Liliana, hast du mich verstanden?“ Meine Schwester brachte nur ein Kichern heraus als sie mich ansah. „Ihr denkt beide daran, das ist sowohl eine noch geheime Handelsreise als auch für alle ein Urlaubs- und Kulturausflug. So solltet ihr euch auch benehmen. Victor, wenn wir den Vertrag mit Melissa Zeforika und Farbrizzio di Garangor vor Phex als Zeugen unterschrieben haben sind die Konditionen welche uns Tsaiane Ulfhart genannt hat erfüllt. Das bedeutet, wenn wir nach Al’Anfa zurückkommen werden wir Deine und Visarias Verlobung öffentlich machen. Das bedeutet ein großes Fest ist vorzubereiten, das können wir kaum im kleinen Kreis feiern. Tsaiane hat sich bereit erklärt das alles in unserer Abwesenheit zu übernehmen. Sie meinte in ihrer Familie sei es ohnehin Sitte das die Damen das Sagen haben. Du kannst Dir während der Reise schon einmal überlegen wie ihr das nach Eurer Hochzeit handhaben wollt. Also ob ihr dann hier wohnen wollt, du zu den Ulfharts ziehst oder ihr euch eine eigene Bleibe sucht.“ Ich sah Mutter geschockt an. „Ja was hast du denn gedacht? Das ihr heiratet und einfach so weitermacht wie bisher? Wach auf Junge, für dich beginnt jetzt der Ernst des Lebens!“ Sie schüttelte tadelnd den Kopf. „Wirklich, manchmal glaube ich dir hat Rahja dermaßen den Kopf vernebelt, dass du gar nicht nachdenkst, was das alles bedeutet.“ Liliana kicherte wieder, weil sie genau wusste, dass Mutter absolut recht hatte. „Solange wir jetzt auf Reisen sind wirst Du für alle außenstehenden den großen Bruder für Liliana spielen und unser magischer Schutz sein. Die einzigen, die ich dir erlaube ins Vertrauen zu ziehen sind Melissa und Fabrizzio mit seiner Frau. Immerhin wäre es nicht recht sie über diesen Teil des Handels im Unklaren zu lassen. Zu allen anderen sagt ihr beiden kein Wort, verstanden?“ Liliana und ich nickten pflichtschuldig. „Gut. Nachdem das jetzt geklärt ist… verschwindet ihr beiden. Ich habe einiges zu organisieren. Ich wisst ja gar nicht, wie viel Arbeit ihr mir macht…“ Mit einem gespielten Seufzer scheuchte sie Liliana und mich fort als wären wir kleine Kinder. Wir grinsten uns an und stoben tatsächlich davon, als wäre es genauso. Um die nächste Hausecke packte Liliana meine Hände und wir vollführten einen Freudentanz, dass uns der Diener der vorbeihuschte ganz verdattert ansah. Ich konnte es kaum erwarten das die Zeit nur schnell vorbeigehen mochte. Liliana meinte, noch bevor wir uns trennten, dass ich mich die nächste Zeit in der Villa Ulfhart zwar nicht zeigen sollte um keinen Verdacht zu erwecken, sie aber dafür sorgen würde, dass Visaria das ein oder andere Mal bei uns zu Besuch wäre, so dass wir uns bis zur Abreise zumindest gelegentlich sehen konnte. Nur wie ich Mutters wachsamen Blick dabei entgehen sollte war mir noch nicht klar. Aber es war besser als nichts!

Die nächsten zwei Wochen vergingen wie im Flug, so viel gab es zu tun. Daher fasse ich nun auch diese Zeit lieber nicht nach dem Ablauf, sondern anderweitig passend zusammen.

Die Rückmeldung seiner Spektabilität in Form einer Depesche lies nicht besonders lange auf sich warten und war, zumindest Größtenteils, gar nicht schlecht für mich.

„Werter Kollege, hinsichtlich des von Euch vorgelegten Kurikulums bin ich zumeist einverstanden.

Eine Änderung bitte ich jedoch vorzunehmen.

Streiche lfd. Nr. 9 des letzten Jahrgangs, „Der Niederhöllen Abgründe …“ und setze stattdessen „Geographie Aventurica - Anforderungen an das Reisen vor dem Hintergrund der jüngsten politischen Umschwünge auf dem Kontinent.“

Zur Begründung der von mir gewünschten Änderung:

Alles, was mit den Siebtspährigen zu tun ha,t soll durch Kollegen unterrichtet werden, deren Gefäß in theoretischer Hinsicht hierbei besser gefüllt ist und die auch über mehr praktische Erfahrung verfügen als ihr in euren jungen Jahren, da sich die damit einhergehenden Gefahren als potentiell dramatisch herausstellen können, wie ihr sicherlich selbst wisst.

Zudem seid ihr trotz Eures noch jungen Alters einer der weitgereistesten Kollegen und haben euch diese Reisen insbesondere durch Landstriche geführt in denen es in jüngster Zeit zu deutlichen Änderungen im politischen und gesellschaftlichen Gefüge kam, weswegen hier praxisnahe Berichte, die das hier vorherrschende, teils alte Wissen überholen, helfen sollen. Wenn ihr hier insbesondere zu den großen Themen, „Mittelreich und Maraskan im Wandel“, „Vom Freund zum Feind, das aktuelle Verhältnis zwischen Albernia und dem Mittelreich“, sowie, ich hörte eine Fahrt dorthin steht Euch in Kürze bevor – „Quo Vadis Horasreich - Auswirkungen der jüngsten Erbfolgestreitigkeiten“, die den Horizont unserer Schüler weiten helfen würdet.

Besten Dank

Lomarion-Zornbrecht, Spektabilität"

Ich brauchte acht Tage um die ersten groben Ausarbeitungen für mein Kurikulum zu erstellen und zu Papier zu bringen damit ich es abgeben konnte. Als ich dies tat und der Sekretaria gleich noch den Hinweis gab, dass ich sie bitten würde die nächsten zwei Götternamen den Unterricht wegen einer anstehenden Studienreise noch nicht auf den Lehrplan zu setzen lächelte sie nur süffisant und meinte, darum solle ich mir keine Gedanken machen. Vor Ablauf des Quartals seien ohnehin noch keine Stunden verfügbar, außer die am späten Abend. Aber diese würden mir ja wie mein Tutorium gezeigt hatte, ohnehin am ehesten liegen. Diese Hexe! Das waren die Stunden, die weder die anderen Dozenten noch die Studenten besonders gern mochten. Dann händigte sie mir noch meine mit dem Zeichen der Fakultät gesiegelten und von der Spektabilität und der Universitätsleitung unterschriebene Ernennung aus. Das goldgerahmte Pergament würde ich wie einen Schatz hüten, auch wenn es noch dauern mochte bis ich es tatsächlich mit Inhalt und Leben füllen konnte. Oder hatte die Spektabilität insgeheim sogar darauf gebaut, dass mein Lebenswandel ohnehin verhindern würde, dass ich mich zu viel in das Geschehen an seiner Fakultät einmischte und es sich um eine reine Titularproffesur handeln würde?

Vater und ich setzten gemeinsam einen Brief an Melissa Zeforika nach Chorhop auf den wir mit dem nächsten Schiff direkt abschickten. Wir kündigten unser Eintreffen je nach dem Wind und der See für in etwa zwei Wochen später an und ließen die Frage offen, ob sie uns mit nach Bethana begleiten oder ihren Teil des Vertrages lieber bei sich zu Hause unterschreiben wollte, so wir sie den antreffen mochten. Das würden wir ja dann sehen, wenn wir da waren. Vermutlich hatte sie gerade wieder als Lotteriefee oder Gesellschaftsdame zu tun und war zu Hause. Aber so wie ich sie kannte würde sie es sich nicht nehmen lassen uns nach Bethana zu begleiten. Sich das entgehen zu lassen, insbesondere wenn ich ihr von der Verlobung erzählte, konnte ich mir bei ihr nicht vorstellen. Zumindest war sie vorgewarnt und wir sandten ihr den ersten Entwurf des Vertrags in der Rohfassung mit. Vermutlich würde sie den auch von irgendjemand prüfen lassen wollen, sie selbst war ja weder Juristin noch Händlerin. Zumindest hätte ich das an ihrer Stelle getan.

Auch meine Versprechen gegenüber Lucio Kugres hielt ich ein und brachte ihm den Vertragsentwurf von Vaters Sekretären zur Prüfung in die Universität. Er versprach mir, sich direkt daran zu machen und uns eine redigierte Fassung binnen dreier Tage zukommen zu lassen. Ob wir seine Änderungen übernähmen läge natürlich ganz bei uns, er würde es jedoch dringlichst empfehlen, falls er etwas zu ändern fände. Ich nehme es vorweg: Er fand. Zwar nicht viel, aber gerade in Bezug auf das Chorhoper Recht hatte er doch die ein oder andere Anmerkung gemacht, die sich als relevant herausstellte. Darüber hinaus hatte sich sein Verhalten mir gegenüber jedoch völlig verändert, er lud mich gar zu einem Wein und Gebäck ein als ich ihm die Papiere brachte. Ich konnte das schlecht ausschlagen ohne unhöflich zu wirken und so saßen wir einige Zeit zusammen. Auf seine Art war er tatsächlich ein genauso schlimmes Tratschweib wie die Gesellschaftsdamen meiner Mutter. Er erzählte mir süffisant, dass es ihm selbst mit der Gästeliste nicht sonderlich schwer gefallen war mich zu identifizieren und amüsierte sich köstlich über die Wirkung, die mein Besuch hinterlassen zu haben schien. Als ich ihm den Abend aus meiner Sicht schilderte, nicht ohne mich noch einmal artig für die Einladung zu bedanken, wäre er fast vor Lachen vom Stuhl gefallen. Dann meinte er, wenn ich jedesmal für so viel Abwechslung und Aufregung sorgen würde, würde er mich in jedem Fall wieder einladen, allein weil es die Gesellschaft ordentlich in Schwung gebracht hatte. Aber, und dabei wurde er wieder ernst, warnte er mich auch. Nachdem es ihm recht einfach gelungen war mich zu identifizieren sollte ich mir gar keine Hoffnung machen, das dies nicht auch anderen gelänge. Er habe schon gehört das dem Majordomus von diversen Damen oder deren Dienern Angebote gemacht wurden nur um die Gästeliste einmal einzusehen und die sich auch nach den bediensteten und Mietsklaven erkundigt hatten. So viele in der Gesellschaft bisher weniger bekannte Namen stünden da nicht zum Diskurs. Noch war, zumindest soweit er wusste, der Majordomus standhaft geblieben. Aber jeder und alles hatte seinen Preis und irgendwer schuldete immer irgendwem einen Gefallen… Gerade wenn es um so eine Lappalie wie die Gästeliste ging für die sich sonst niemand interessierte. Noch ein Grund, warum ich unsere Abfahrt kaum erwarten konnte. Seltsamerweise verstanden wir beide uns nun prächtig miteinander. Und als ich ihm erzählte wir wären ja jetzt quasi Kollegen zwinkerte er mir nur zu, das wisse er natürlich bereits und er könne das nur begrüßen, solange ich mir nicht einbildete in seinem Revier wildern zu müssen. Aber angesichts meiner Reputation und Ausrichtung meines Fachgebiets hatte er da nur wenig bedenken. Das konnte ich ihm guten Gewissens bestätigen. So spannend fand ich die Juristerei dann auch wieder nicht… darauf stießen wir erneut an.

Bis zur Abfahrt hatte ich nicht nur den zweiten, sondern auch den dritten Heiltrank den ich mir vorgenommen hatte fertig. Vielleicht sollte ich mir bei Gelegenheit eine bessere Laborausstattung zulegen? Aber erst, wenn das mit der zukünftigen Wohnung geklärt war. In meinem Zimmer würde es schwierig werden, außer ich würde aus Nandurins Kinderzimmer ein richtiges Studierzimmer machen. Und bei den Ulfharts war mir gar nicht klar wie es dort aussehen würde. Ich hatte Visarias Zimmer ja noch nie zu Gesicht bekommen. Oder hatte sie so wie ich eine eigene Zimmerflucht? Fragen über Fragen… Mutter hatte recht, darüber sollte ich mir wirklich Gedanken machen. Außerdem musste ich noch mit Vater reden. Ich hatte wohl etwas zu viel meines Goldes bereits im Affekt ausgegeben. Wenn ich Fabrizzio meine Schulden zurückzahlen wollte, würde ich sogar auf meinen Teil des Schatzes zurückgreifen müssen, was mich etwas ärgerte aber letztlich unumgänglich war. Daher ließ ich mir von Vater noch 554 Dukaten auszahlen. Warum eine so seltsame Summe? Das war einfach erklärt, denn der verbleibende Restbetrag war damit genau 27.000 Dukaten, also eine glatte Zahl mit der es sich leicht rechnen ließ und die meinem Ordnungssinn auch entgegenkam. Ich befürchtete aber nun, dass ich auch so nun wieder nicht mehr genug Gold für die beiden von mir gewünschten Artefakte zur Verfügung haben könnte. Aber darum mochte ich mir Gedanken machen, wenn ich das nächste Mal Richtung Kunchom fahren würde. Darauf wollte ich nun keine Zeit verschwenden, es stand Wichtigeres an.

Es hatte im Übrigen nur zwei Tage gedauert, da hatte Mutter ihr Versprechen an Ulmjescha umgesetzt und ihr eine eigene Schlafkammer verschafft. Zwei Hausdienerinnen, die sich diese bisher geteilt hatten musste dafür den Platz räumen und umziehen. So hatte Ulmjescha also nun eine eigene Kammer direkt an der Treppe im oberen Stock in der Nähe und über meiner eigenen Zimmerflucht. Weit weg war es also nicht. Trotzdem bevorzugte sie es, lieber bei Nandurin und mir zu nächtigen. Ich hatte eher im Gegenteil den Eindruck, nun sogar noch viel dringlicher als vorher. Sie schien regelrecht Angst davor zu haben, dass ich sie abends des Zimmers verweisen könnte. Was ich nicht tat. Damit hätte ich Nandurin wohl das Herz gebrochen. Und ich genoss die Nähe meiner beiden Kleinen viel zu sehr, als das ich es gerade selbst gewollt hätte. Das diese Bevorzugung durch meine Mutter es Ulmjescha bei der übrigen Dienerschaft nicht unbedingt leichter machte, mochte aber ebenfalls nicht verwundern. Zwar wagte es keiner sich ihr gegenüber offen feindselig zu zeigen, gerade wenn eine der Herrschaften in der Nähe war, aber ich hatte den Eindruck das es um sie noch einsamer bestellt war als vorher. Als würde sie geschnitten und gemieden. Es schien ihr aber egal zu sein, solange sie nur in unserer Nähe war. Besonders eindringlich bestärkte sich diese Annahme meinerseits, als ich des Abends einmal mit dem Folianth der Kreutherkunde auf dem Dach saß und mir Notizen für meinen Unterricht machte. So saß ich also da, an nichts schlimmeres als unaufmerksame Studenten denkend, als ich leise Stimmen unter dem Baldachin zum Garten unten hörte. Ich ging zum Rand des Daches um das Getratsche zu unterbinden, damit ich mich auf meine Arbeit konzentrieren könnte, als ich die ersten Worte verstand. Und was ich da hörte ließ mir die Haare zu Berge stehen. „… es ist doch unerhört mit dem kleinen Gör!“ „Ja, finde ich auch.“ Einfach ungerecht, dass sie so bevorzugt wird. Wir arbeiten viel härter und auch schon viel länger im Haus.“ „Ebend.  Wie sie sich wohl auch noch lieb Kind bei der Herrin gemacht hat?“ „Eine kleine Natter ist das! Schlimm genug das der junge Herr sie so in Schutz nimmt. Aber der war ja schon immer absonderlich.“ „Na das kann ich dir erklären, DAS weiß ich ganz genau. Das kommt, wenn man die Zimmer richtet… ihr Bett ist seit Wochen unberührt.“ „Du willst doch nicht sagen…“ „Doch, genau das! Die kleine Schlampe macht einfach die Beine für den jungen Herrn breit! Was denkst du denn wie sonst…“ Mir verschlug es in diesem Moment kurzzeitig die Sprache. Eigentlich hätte ich nun in aller Stille nach unten rennen müssen um zu sehen wer da solcherart sprach. Aber es überkam mich dermaßen im Zorn, dass ich wie ein waidwundes Tier aufschrie und hinunterbrüllte. „Was erlaubt ihr spitzzüngigen Weiber euch da, für Lügen zu verbreiten? Na wartet, wenn ich euch erwische!“ Von unten war ein Kreischen zu vernehmen und dann schnelle Schritte die sich entfernten. Bis ich über die innen liegende Treppe den Bereich unten am Garten erreicht hatte war bereits niemand mehr zu sehen. Es tobte derart in mir, dass ich an diesem Abend nicht mehr dazu in der Lage war auch nur noch eine Seite zu lesen oder schreiben. Krampfhaft überlegte ich, zu welcher der zahlreichen Dienerinnen und Sklavinnen die Stimmen gehört haben mochten, aber ich kam partout nicht darauf, was mich überaus wurmte. Als ich später zu den Kindern ins Bett stieg achtete ich tunlichst darauf, Ulmjescha nicht zu berühren. Ganz im Gegensatz zu ihr, die wieder mit Nandurin an mich heranrückte um ihre kleinen Arme um mich zu legen. Es dauerte eine ganze Zeit lang, bis ich es schaffte einzuschlafen. Nur kam ich die nächsten Tage bis zur Abfahrt vor lauter Arbeit nicht mehr dazu diese giftigen Vipern zu verfolgen und zur Strecke zu bringen. Aber das würde ich nach unserer Rückkehr nachholen. Eigenhändig. Ohne Mutter da hineinzuziehen. Das war jetzt etwas Persönliches…

Visaria besuchte uns bis zur Abfahrt ganze fünfmal. Beim ersten Besuch, kurz nach dem Frühstück, hatte ich es mir gerade mit Feder und Pergament an meinem kleinen Schreibtisch zurecht gemacht die Eckpunkte für den Unterricht in Schutzkreisen festzuhalten als es leise an meiner Tür klopfte. Ulmjescha war mit Nandurin zu den Ställen gegangen. Eine unserer Hauskatzen hatte einen frischen Wurf und die beiden waren ganz vernarrt in die maunzenden kleinen Fellbündel. Da ich keine Lust hatte mich von einer putzenden Dienerin bei meinen Gedanken stören zu lassen sagte ich laut und vernehmlich „Ich benötige heute keine Dienste, ihr könnt euch um ein anderes Zimmer kümmern.“ Als sich die Tür dennoch leicht knarrend öffnete blickte ich mich verwundert um, schon eine schelte für die ungehorsame Dienerin auf den Lippen. Es blieb mir im Halse stecken. Visaria stand in der Tür wie eine Vision der schönen Göttin selbst. Ihre Kleidung war heute ganz in einem zarten grün wie von frischen Blatttrieben gehalten. Geschnürte Schuhe, ein luftiger Rock aus Seide der ihre Beine umschmeichelte, darüber eine mit Goldfäden bestickte Weste die ihre Brust und Schultern bedeckte aber den Blick auf ihren flachen Bauch freiließ. Sie zog eine gespielte Schnute. „Wie schade, ich hatte gedacht meine Anwesenheit würde hier benötigt, aber dann gehe ich wohl besser wieder…“ Ich überschlug mich förmlich bei dem Versuch so schnell es ging zu ihr zu kommen und stieß dabei den Stuhl um. „Verzeih Liebste. Hätte ich gewusst das du es bist…“ und dann stand ich schon vor ihr und zog sie ins Zimmer in meine Arme. Ich schaffte es gerade noch die Tür zu schließen und den Riegel vorzulegen, bevor wir uns innig umschlangen und ich ihre Lippen und ihren zarten Hals mit Küssen überschüttete. Wie zwei ertrinkende klammerten wir uns aneinander, konnten und wollten unsere Hände und Lippen nicht voneinander lösen. Sie murmelte atemlos etwas wie „…deine Schwester…Mutter… beschäftigen…“ aber es war mir eigentlich völlig egal. Erst einige Zeit später, ich saß mittlerweile auf dem Sessel, Visaria auf meinem Schoß, schreckten wir hoch als sich die Türklinke bewegte und jemand versuchte hereinzukommen. Leise hörte ich Nandurin von draußen. „Ulmi, wieso Tür zu?“ Normalerweise war meine Tür stets offen, irgendwie mussten die Diener ja zum Putzen herein oder Nandurin und Ulmjescha in ihr Zimmer kommen. „Ich weiß nicht Nandu. Komm, wir suchen den alten Dormin und holen uns den Schlüssel.“ Leichte Trippelschritte entfernten sich. Visaria und ich sahen uns an wie zwei ertappte Galgenvögel und brachen dann gleichzeitig in unterdrücktes Lachen aus, damit man uns draußen nicht hören würde. Wir warteten kurz, dann nahm ich sie an der Hand und öffnete die Tür. Wir schlichen uns verstohlen auf die Dachterrasse unter das Sonnendach, von hier aus hatten wir einen guten Blick in den Innenhof und Garten. Als die beiden mit einem silbernen Schließhaken wieder kamen fiel es uns schwer den neuerlichen Lachanfall zu unterdrücken. Der effektivste Weg war, dass wir erneut unsere Lippen aufeinanderpressten, bevor wir wieder sittsam nebeneinandersaßen und uns erzählten, was in den letzten beiden Tagen passiert war. Ich konnte mich an ihrem Anblick einfach nicht sattsehen, auch wenn ihre Haare ein wenig derangiert wirkten. Ein paar Strähnen hatten es geschafft, sich aus ihrem sorgsam geflochtenen Zopf zu lösen und hingen ihr nun neckisch links und rechts um das hübsche Gesicht. Ich befürchte allerdings, ich war nicht der einzige dem dies aufgefallen war. Als wir nach dem Gong zum Mittagessen kamen grinste Liliana verstohlen in unsere Richtung. Mutter musterte uns abschätzig, legte missbilligend die Stirn in Falten, sagte aber nichts weiter. Ulmjescha sah uns an und zornige Blitze schossen aus ihren Augen. Ich glaube, sie fand den Streich mit der verschlossenen Tür nicht lustig. Abrupt drehte sie sich um, half Nandurin auf seinen Stuhl und kümmerte sich beim Essen auffällig intensiv um ihn, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Bei Visarias nächsten Besuchen war es wie verhext. Egal wo wir waren, nie waren wir allein. Stets hatte Mutter etwas mit uns zu besprechen, saß mit einem Buch oder einer Tasse Tee in unserer Nähe oder kam wie zufällig immer wieder geschäftig vorbeimarschiert. Und Ulmjescha war mit Nandurin, kaum dass sie mitbekam, wenn Visaria in die Auffahrt unseres Anwesens einbog, zum Spielen in unserem Zimmer oder die beiden verfolgten uns auf Schritt und Tritt und wollten von mir Geschichten erzählt bekommen. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu!

Dann war es endlich soweit und nach 14 Tagen lief unser Schiff, eine Karavelle mit dem schönen Namen „Flinker Schuppensegler“ (der Fachbezeichnung eines fliegenden Fisches) aus der goldenen Bucht aus. Wir setzten Segel und ließen uns vom Wind Richtung Chorhop treiben, an Bord die Ladung welche Vater für das Horasreich erworben hatte und wir. Das Schiff war auch auf Passagiere ausgelegt, so dass die Unterbringung kein Problem war. Etwas anderes wäre für meine Mutter auch kaum in Frage gekommen. Die Vorstellung meiner Mutter in einer Hängematte im Laderaum war fast komisch zu nennen. Sie hatte natürlich eine eigene Kabine zusammen mit Armando. Liliana und Visaria teilten sich als Freundinnen eine Kajüte. Mutter hätte es nie geduldet, dass ich die jetzt schon eine Kabine mit Visaria zusammen genommen hätte. So blieb die letzte für mich selbst, Nandurin und Ulmjescha. Also eigentlich wie zuhause, nur enger. Das „Bett“ war so schmal, dass uns gar nichts anderes übrig blieb als wie eingelegte Salzarelen über- und nebeneinander zu liegen. Nandurin an der Wand, damit er nicht hinausfallen konnte, auf meiner Schulter. Ich als größter der Bettbeleger in der Mitte und Ulmjescha, die gar nicht in die extra für sie aufgespannte Hängematte wollte, auf der freien Seite des Betts mit dem Fallbrett, so dass sie auch bei Wellengang nicht hinausplumpste. Ihr Kopf ruhte auf meiner anderen Schulter so dass ich zwischen den beiden Kindern regelrecht eingequetscht war, ihr Arm quer über meiner Brust zu Nandurin hinübergestreckt und ihr Bein hatte sie um meine Hüfte geschlungen. Die Nächte waren alles andere als bequem und ich überlegte schon, ob ich nicht einfach selbst die Hängematte nehmen sollte, aber der Protest der Kinder als ich das Vorschlug ließ mich schnell wieder Abstand von dieser Idee nehmen.

Unser Schiff war ja eines der schnelleren, keine träge Kogge. Trotzdem würden wir bis Chorhop mit den nötigen Zwischenstopps etwa zwei Wochen benötigen. Ich hatte mir zwar Lektüre, diesmal die Geheimnisse des Lebens, weil dieses Buch auch im Horasreich als unverfänglich gelten würde, mitgenommen, um die Zeit nicht ungenutzt zu lassen. Ich kam allerdings nur sehr wenig zum Lesen bis wir Chorhop erreichten. Irgendwer schien diesmal immer meine Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Nicht das ich gerade in ganz speziellen Fällen etwas dagegen gehabt hätte. Trotzdem möchte ich niemand mit der detaillierten Beschreibung einer zweiwöchigen Seefahrt langweilen. Meistens hatten wir gutes Wetter und kamen ordentlich vorwärts, und es gab nur einige kleinere Begebenheiten die erzählenswert waren.

Wir als Passagiere verbrachten die meiste Zeit ohnehin in der Messe, unseren Kajüten oder spazierten müßig am Deck wenn es das Wetter und die Arbeit der Matrosen zuließ und wir nicht im Weg standen. Gerade bei letzterem mussten wir stets ein waches Auge auf Armando und Nandurin haben für die das alles ein großes Abenteuer war. Und gerade dies war auch das Problem, denn wenn man sie nicht beständig Beobachtete kamen ihnen so großartige Gedanken wie in die Takelage klettern zu wollen (zumindest Armando, Nandurin war dafür noch zu klein…), sich über die Reeling zu beugen und das Meer nach Fischen abzusuchen oder generell überall herum zu hüpfen wo es gefährlich werden konnte. Ich wollte mir gar nicht ausmalen wie es wäre, wenn einer der beiden bei voller Fahrt über Bord ginge. Also hüteten wir die beiden wie Flohsäcke und insbesondere Ulmjescha hatte stets mehr als genug zu tun. Ansonsten verbrachte ich meine Zeit meist mit Mutter, die uns größere stets mich wachem Blick im Auge hatte, Visaria und Liliana. Nicht das Visaria und ich nicht immer wieder versuchten – und es oft genug auch schafften! – innige Zeit alleine zu verbringen. Ab dem zweiten Tag entwickelte es sich regelrecht zu einem Spiel, wie Verstecken für Große, wenn wir versuchten uns unauffällig davonzustehlen und ungesehen irgendwohin zu verschwinden. Waren es anfangs noch nur unsere Kabinen, wo man uns natürlich recht schnell wieder aufspürte, versuchten wir bald auch andere Plätze des Schiffs zu nutzen. Leider ist so eine Karavelle weder besonders groß noch geeignet, übermäßige Privatsphäre zu schaffen. Außerdem gab es genug Plätze die für ein romantisches Stelldichein nicht gerade passend waren. Die Kombüse? Da war fast immer der Smutje zugegen und es auch recht eng. Die Bilge? Eng, stickig, stinkig und voll Ratten, nicht besonders schön. Die Brücke? Viel zu gut einsehbar und auch noch recht windig. In die Takelage? Wollte weder Visaria noch ich klettern. Tatsächlich hatten wir die längste Zeit zu zweit genießen können, als ich einmal die Tür zum Frachtraum und später sogar zur Waffenkammer mit einem Foramen geöffnet hatte. Der Frachtraum war sogar halbwegs bequem, die Echsenlederballen boten uns ein gutes Lager auf dem wir uns räkelten. Nur die Waffenkammer war wieder recht eng und der Romantikfaktor eher niedrig als wir es uns zwischen Säbeln, Entermesser, Bolzen und Rotzenkugeln versuchten gemütlich zu machen. Aber dafür hatte es ewig gedauert bis sie uns dort gefunden haben! Nur das der Kapitän mich im Anschluss unter vier Augen freundlich gebeten hatte dies nicht noch einmal zu tun, da dieser Bereich für die Passagiere eigentlich nicht zugänglich sein sollte. Und nachdem Mutter jetzt wusste wo sie im Zweifelsfall nachsehen müsste… aber die beiden Male war es wert gewesen!

Überhaupt, Visaria… hatte ich schon einmal erwähnt das sie in meinen Augen das schönste Mädchen Deres war? Der Innbegriff von Rahjas Schöpfung? Und den endgültigen Beweis erhielt ich als wir gerade um das Kapp Brabak fuhren. Die See war heute etwas rauer, auch wenn das Wetter bei weitem nicht schlecht war. Mutter saß mit Armando, Nandurin und Ulmjescha in der Messe, sie spielten dort mit den Kindern. Ich war mit Liliana und Visaria den Vormittag über oben auf der Brücke, wir beobachteten die Küste, welche in Sichtweite gen Firun an uns vorbeizog. Wenn wir Ortschaften wie Ranak, Chutal und einige weitere, die ich mir nicht gemerkt hatte, passierten erzählte uns der Rudergänger Geschichten und Anekdoten, die er dort beim Landgang erlebt haben wollte. Meist sogar recht amüsant, auch wenn in so gut wieder jeder entweder eine Dame des leichten Gewerbes, eine erhebliche Menge Rum, eine Kneipenschlägerei oder gleich eine Kombination aus allen drei Dingen vorkam. Aber ich schweife ab. Durch die raue See waren wir drei bis zum Mittag von der emporsprühenden Gischt komplett durchnässt, so dass wir uns vor dem Essen in die Kabinen begaben um uns umzuziehen. Gerade Visarias nasse Seidenkleider hatten am Ende meine Fantasie mehr und mehr beflügelt. Eigentlich hatte ich mich ja immer gut unter Kontrolle, aber heute hatte ich wohl einen schwachen Tag. Und der Zauber den Visarias liebliche Erscheinung über mich legte half da nicht gerade weiter. Unsere Kabinen lagen direkt nebeneinander im Heck des Schiffs. Und in diesem Moment konnte ich es mir einfach nicht verkneifen. Kaum das ich die Tür hinter mir geschlossen hatte schaffte ich es nicht, mich weiter zusammenzureißen. Ich war allein, Nandurin und Ulmjescha ausnahmsweise nicht da… ich legte meine Stirn an die hölzerne Wand die uns trennte und murmelte leise „Penetritzel Holz und Stein“. Meine Sicht verschwamm kurz, bevor ich die Kajüte meiner Schwester und Visarias vor mir sah als stünde ich darin. Der Mund wurde mir trocken, als ich Visaria, die sich just in diesem Moment umzog, das erste Mal sah wie Tsa sie geschaffen hatte. Ihr zarter, schwanengleicher Hals schimmerte im Licht das durch die Bullaugen hereinfiel. Ihre kleinen, knospenden Brüste gekrönt von den schönsten Blüten die ich je gesehen hatte hoben sich wie zwei perfekte kleine Arangen von ihrer schmalen Figur. Das schmale dunkle Dreieck zwischen ihren schlanken Beinen schien mir wie die göttliche Verheißung von Rahjas Paradies selbst. Und als sie sich vorbeugte um die Strümpfe zu wechseln und mir dabei ihren traumhaften kleinen Apfelpo entgegenstreckte hätte mich fast der Donnerschlag gerührt. Viel zu schnell war sie wieder in frische Seidenkleider geschlüpft, aber diese Vision würde mich sicherlich bis in meine Träume verfolgen! Zum Glück war so eine Robe deutlich schneller gewechselt, so dass es nicht auffiel das ich vielleicht mehr Zeit als üblich gebraucht hatte als wir uns wieder auf dem Gang vor den Kajüten trafen. Den Ausdruck auf meinem Gesicht hätte man vermutlich am besten als Liebestrunken beschreiben können, aber das war zu dieser Zeit fast mein Normalzustand.

In der zweiten Woche, wir hatten vielleicht noch drei Tage bis Chorhop, bat Mutter mich in ihre Kabine. Sie wollte ungestört mit mir reden. Ich hatte schon Sorge, dass sie mir nun wieder eine Standpauke in Bezug auf Visaria halten würde – dass uns der Kapitän in der Waffenkammer erwischt hatte war erst gestern gewesen. Ich hatte schon vorsorglich ein schlechtes Gewissen, als ich durch ihre Tür trat. Sie selbst setzte sich auf ihr Bett und klopfte einladend neben sich, ich solle mich zu ihr setzen. Aber von Anfang an nahm das Gespräch eine Wendung, mit der ich nicht im Entferntesten gerechnet hatte. „Victor, ich will das du jetzt ehrlich zu mir bist…“ hob sie an. Ich nickte stumm, hatte aber allein schon ob dieser Eröffnung einen kleinen Kloß im Hals. Was wollte Mutter jetzt wieder von mir. „Ich frage es jetzt ohne groß herumzuschwafeln. Schläfst du mit Ulmjescha?“ Bei bestimmten Dingen schien mein Verstand langsamer zu Arbeiten als sonst. Ich muss wohl ein etwas schuldbewusstes Gesicht gemacht haben, und der Tonfall meiner Antwort war etwas trotziger, als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. „Ja, Nandurin, Ulmjescha und ich schlafen im gleichen Bett. Na und?“ Mutter seufzte schwer. „Stell dich nicht dümmer als du bist, Junge. Ich will wissen ob du die Kleine fickst.“ Und das brachte sie eiskalt heraus. Manchmal vergas ich, wie direkt und kühl Mutter sein konnte, wenn sie etwas ernst meinte. Meine Empörung musste ich nicht einmal spielen, die war so echt wie sie nur sein konnte. „MUTTER! Also wirklich! Nein, das tue ich natürlich nicht!“ Sie legt mir beruhigend ihre Hand auf den Arm und sah mich wieder so an wie früher, als ich noch ein kleiner Junge gewesen war. „Gut Junge. Ich wollte nur sicher gehen, ich glaube dir ja. Du warst schon immer furchtbar schlecht darin mir irgendwas vorzumachen. Ich habe Ulmjescha heute Morgen das gleiche gefragt. Die Kleine hat geheult wie ein Schlosshund und es abgestritten, aber bei ihr bin ich mir da deutlich weniger sicher als bei dir. Und es gibt da einige Vögelchen die so etwas von den Dächern pfeifen… was glaubst du denn, warum ich ihr zuhause eine eigene Kammer gegeben habe?“ Daher also dieser ungewohnte Großmut. „Ich will doch nur auf dich Acht geben Junge.“ „Ich verstehe, Mutter. Aber das du mir das überhaupt unterstellst… du weißt das ich nur Augen für Visaria habe. Mir so etwas zuzutrauen…“ „Tut mir leid Junge. Ich wollte einfach sicher gehen. Wir können uns so kurz vor dem Ziel keine zusätzlichen Probleme leisten.“ Ich atmete ein wenig erleichtert aus ehe sie fortfuhr. „Und weißt du, was Ulmjescha noch gesagt hat?“ Ich sah Mutter verwundert an, „Nein, woher denn?“ Ihre Hand drückte Fester an meinem Arm. „Sie hat bei dem ganzen Geheule gesagt, sie wünschte, du tätest es.“ Wieder dieser eiskalte, trockene Tonfall. Ich sah Mutter verständnislos an, die ärgerlich weitersprach, weil ich sie nicht auf Anhieb verstand. „Sie meinte, sie würde sich wünschen das du sie fickst. Damit sie dich nicht mit irgendeiner anderen Frau teilen müsste oder dich nicht verlieren würde, du Dummkopf. Ich bin mir zwar nicht sicher ob sie wirklich wusste was sie da sagt, aber trotzdem…“ Ich sah Mutter jetzt ehrlich schockiert an. „Aber sie ist noch ein Kind…“ „Ja. Ist sie. Und du teilst das Lager mit ihr. Wirklich, manchmal siehst du den Dschungel vor lauter Bäumen nicht, oder? Aber ehrlich Victor, es wäre mir - jetzt zumindest - eigentlich noch egal. Noch bist du weder verlobt noch verheiratet. An sich könnte es mir gerade egal sein ob du Männlein, Weiblein, Affe, Ziege, Alt oder viel zu jung vögelst.“ Da war sie wieder, Mutters brachiale, direkte Art, wenn sie etwas unumstößlich deutlich machen wollte. „Aber eins kannst du mir glauben. Ich weiß wie ihr Männer tickt. Wenn euch ein hübsches junges Ding erst mal am Schwanz gepackt hat ist es egal wie standhaft ihr vielleicht vorgebt zu sein, dann führt es euch an der Hosenleine durch die Arena wie ihm beliebt. Versuch es gar nicht erst zu leugnen! Es wird nicht mehr lang dauern, dann dürfte aus Ulmjescha ein höchst gefährliches Mädchen für alle Männer werden. Und sie hat im Augenblick dich im Blick, sonst niemand.“ Jetzt ließ ich den Kopf hängen. War das wirklich so? „Jetzt kannst du noch tun was du willst, Junge. Im schlimmsten Fall würdest du Visarias Gefühle verletzten und es täte an der Situation nicht einmal etwas ändern, außer wie sie dich vielleicht sieht. Aber wenn ihr erst verlobt, geschweige denn verheiratet seid…“ Mit einem Mal verstand ich was Mutter mir sagen wollte. „Du kennst dich doch im Recht unserer Heimat aus, Junge. Ehebruch ist kein Kavaliersdelikt, du weißt das. Wenn ich gewollt hätte, ich hätte Deinen Vater schon dutzende Male an den Eiern packen und bis auf den Lendenschurz ausziehen können. Mach nicht die gleichen Fehler wie er. Ich glaube nicht das Visaria oder ihre Tante so nachsichtig sind wie ich…“ Das war fast schon eine unverhohlene Drohung. Ich schauderte ob der Implikationen. „Verstehst du jetzt? Ich will doch nur das Beste für dich. Also lass dich gewarnt sein. Egal ob es deine Absicht war oder nicht, du solltest der kleinen Ulmjescha nicht irgendwelche Hoffnungen machen, die du nicht erfüllen kannst.“ Ich nickte niedergeschlagen, „Ja Mutter, du hast wie immer recht…“ Sie strich mir jetzt sanft über den Rücken. „Zum Glück hast du ja mich Victor. Ich habe Ulmjescha unmissverständlich klar gemacht, dass sie sich da gar keine Hoffnungen zu machen braucht, aufhören soll zu Träumen. Und von dir erwarte ich, dass du das auch berücksichtigst und dich entsprechend verhältst. Mach es euch beiden nicht schwerer als es sein muss, ja?“ Sie drückte mir einen mütterlichen Kuss auf die Stirn. An diesem Abend schlief ich das erste Mal tatsächlich in der Hängematte. Nandurin sah mich völlig verständnislos an als ich ihn ohne mich in das Bett legte. Und später meinte ich zu hören wie Ulmjescha sich in den Schlaf weinte. Mir zerriss es fast das Herz. Aber ich blieb standhaft und kroch nicht zurück in unser Bett. Die übrigen Tage bis Chorhop schien Ulmjescha wie ausgewechselt. Traurig, niedergeschlagen und jedesmal wenn sie mich sah schien sie den Tränen nahe zu sein. Das schlimmste daran war, dass es mir genauso sehr weh tat wie ihr. Und ich keine Ahnung hatte, was ich dagegen tun sollte.

Das ging so weit, dass mich kurz vor dem einlaufen in den Hafen Liliana abpasste und im Gang vor der Kajüte anzischte. „Victor, was hast du angestellt. Die arme kleine Ulmjescha ist ja völlig neben sich, merkst du das nicht, du grober Klotz? Selbst Visaria hat mich schon gefragt ob etwas mit ihr ist. Sie hat jetzt seit Tagen nicht richtig gegessen und sieht aus als würdest du sie des nächtens züchtigen.“ Das konnte ich so nicht stehen lassen, das war doch nicht meine Schuld! „Nein Lili, nichts dergleichen… es ist ganz anders.“ Und dann erzählte ich ihr von dem Gespräch mit Mutter und das ich nur versuchte es ihr irgendwie recht zu machen. Sie schüttelte mit dem Kopf das ihre heute gelockten Haare flogen. „Wirklich Bruder, meinst du das löst irgendein Problem? Ich meine, Mutter hat schon irgendwie recht. Aber so? Hast du es Ulmjescha wenigstens erklärt?“ Ich zuckte schuldbewusst mit den Schultern. Wieso erklärt? „Nein, habe ich nicht…“ Sie funkelte mich an. „Echt jetzt Victor? Du trampelst auf den Gefühlen der Kleinen herum wie ein Brabaker Waldelefant und sagst ihr nicht einmal, was los ist? Ich sage dir jetzt etwas… ich gebe dir bis zur Abfahrt aus Chorhop Zeit das zu regeln und mit Ulmjescha zu sprechen. Wenn du es nicht machst, mach ich es…“ Und aus ihrem Mund hörte sich das ebenfalls fast wie eine Drohung an. Was hatten die Frauen meiner Familie eigentlich gerade alle?

Dann erreichten wir Chorhop. Die Stadt war zwar für ihre besonderen Glücksspiele berühmt, aber im Vergleich zu Al’Anfa geradezu mickrig klein. Unser Aufenthalt sollte auch nicht übermäßig lang werden, gerade drei Tage um einen Teil der Ladung umzuschlagen, den Proviant aufzufrischen der die letzten Tage die wir an der wilden Küste entlanggefahren waren zur Neige gegangen war und um unsere Geschäfte mit Melissa zu regeln. Die Stadt lag zu beiden Seiten des Flusses Südask der in den Hafen mündete, geschützt von einer mächtigen Festung die Aussah, als würde sich jeder verwegene Plünderer daran eine blutige Nase holen. Als der Lotse den man uns entgegen sandte uns einen Liegeplatz zuwies erfuhren wir, dass man uns schon erwartete. In dieser Stadt waren die Wege deutlich kürzer als daheim – der Bote der sofort losgeschickt wurde brachte noch bevor wir unser Gepäck auf den Kai gebracht hatten eine Abordnung des Hauses Zeforika die uns einsammeln und durch Chorhop geleiten sollte. Sänften für uns, eine bewachte Kutsche für unsere Habe.

Wenn ich ehrlich bin lohnte es sich aber eigentlich gar nicht in die Sänften zu steigen, außer natürlich, weil es sich gehörte. Das Anwesen, ich würde es eher Palast nennen, der Familie Zeforika wo wir erwartet wurden, lag inmitten der Stadt und war binnen weniger Minuten erreicht, weil alle Menschen den Sänften respektvoll Platz machten. Eigentlich trennten den Palast lediglich zwei Häuserzeilen vom Hafenbecken. Er war ein tulamidisch anmutender Rundbau aus weißem und rosa Marmor, der genauso gut in Al’Anfa auf dem Silberberg hätte stehen können, so prächtig war er anzusehen. An der torartigen Pforte zu diesem Prunkbau erwartete uns schon Melissa, gehüllt in ein aufregendes weißes Kleid das sie regelrecht feenhaft wirken ließ. An ihrer Seite stand ein älterer Mann mit graubraunen Haaren und stechenden grünen Augen. Ich hielt mich im Hintergrund als wir eintrafen, denn offiziell war ja Mutter die Führerin unserer Delegation. Die beiden musterten sich kritisch, so als würden sich zwei Duellanten beim Fechten abschätzen, bevor Mutter einen Knicks machte und der alte Mann sich verbeugte und ihre Hand zum Kuss nahm. Erst dann begrüßte uns auch Melissa, was das Eis endlich brach. Sie stellte uns den alten Herren als ihren Vater, Adnan Zeforika vor. Patriarch ihrer Familie und hiesiger Vogtvikar des Phex. Auch uns begrüßte er der Reihe nach, zuerst meine Schwester, dann Visaria und zuletzt mich. Als er mir die Hand reichte verzog sich sein Gesicht tatsächlich zu etwas wie einem abschätzenden Lächeln. „So lernen wir uns also kennen junger Mann. Meine Tochter hat viel über Euch erzählt – einen der Jäger des verlorenen Schatzes.“ Er nickte bestätigend. „Aus ihrer Schilderung hätte ich euch für größer gehalten. Aber es gibt ja auch noch andere als körperliche Größe, nicht war…“ dann ließ er mich etwas verdattert stehen und lud uns in seinen Palast ein. Wir sollten selbstverständlich seine Gäste sein solange wir nur wollten und in der Stadt weilten.

Er hätte es als Vogtvikar sicherlich gerne gesehen, wenn wir den Vertrag mit seiner Tochter unter seiner Aufsicht und seinem Segen geschlossen hätten. Allerdings fehlte uns dazu ja Fabrizzio. Und Melissa schien von der Idee begeistert zu sein mit uns nach Bethana zu fahren, ganz wie ich vermutet hatte. So blieb der geschäftliche Teil unseres Aufenthalts in Chorhop auf ein Mindestmaß reduziert. Mutter schien sich jedoch nach anfänglicher beiderseitiger Zurückhaltung bereits nach dem festlichen Abendessen hervorragend mit Adnan Zeforika zu verstehen. Auch wenn sich dies bei den beiden darin auszudrücken schien, dass sie beständig wie streitende – besser diskutierende – Katzen umeinander herumschlichen und verbale Schlagabtausche lieferten. Die Themen, ich habe gar nicht alles mitbekommen da meine Aufmerksamkeit anderweitig gebunden wurde, waren dabei vielfältig. Vom Verhältnis unserer beiden Städte über einen Streit welche Familie hier oder dort die erfolgreichsten Sklavenhändler stellte, die formelle Zugehörigkeit Chorhops zu Al’Anfa oder dem Kalifat, der Dominanz von Boron oder Phex… die beiden schienen sich irgendwie bei so gut wie nichts einig zu sein und dennoch beständig miteinander plänkeln zu müssen. Meine Aufmerksamkeit galt natürlich eher Visaria, ich hatte die Hoffnung endlich herunter vom Schiff ein wenig mehr Zeit mit ihr allein verbringen zu können, während Melissa sich mit Liliana prächtig zu verstehen schien. Über die nächsten drei Tage musste ich nach und nach noch einmal die komplette Geschichte unserer Schatzsuche für alle zum Besten geben. Aber auch so wurde es uns nicht langweilig. Melissa ließ es sich nicht nehmen, uns „ihre“ Stadt zu zeigen. Die Werft ihrer Familie war wirklich beeindruckend – hier lagen gleichzeitig mehrere Schiffe im Bau auf Rede. Und wer weiß was ein Schiff kostet und was man daran verdienen konnte wunderte sich nicht über den Wohlstand der Zeforikas. Das abendliche und nächtliche Chorhop war, zumindest die Teile die wir besuchten, eine wundersame bunte Stadt, voll von Lachen, Ausschweifung und durchdrungen vom Geist des Phex. So viele Glücksspielhäuser auf engstem Raum wie hier hatte ich noch nie gesehen. Ich war zwar versucht mein Phexensglück herauszufordern, tat dies am Ende aber doch nicht. Sogar einen Gladiatorenkampf in der Arena besuchten wir – wobei dieses Spektakel zwar spannend anzusehen war, aber enttäuschend unblutig verlief. Daheim hätten sie mit dieser Veranstaltung kaum jemand in die Arena gelockt. Es war mehr ein sportlicher Wettstreit den wir zu sehen bekamen, als ein echter Kampf auf Leben und Tot so wie ich es gewohnt war. Trotzdem genoss ich unseren Aufenthalt.

Das lag insbesondere daran, dass es Visaria und mir tatsächlich gelang zwischen dem gut gefüllten Programm immer wieder ungestört zusammenzukommen. Dabei half enorm, dass wir alle eigene Zimmer in der weitläufigen Palastanlage der Zeforikas erhalten hatten. Mutter war mit dem Patriarchen beschäftigt. Ulmjescha musste sich daher meist um Armando und Nandurin gleichzeitig kümmern. Bei Liliana und Melissa hatte ich den Eindruck, die beiden würden Visaria und mich ganz bewusst in Ruhe lassen und ihre Zeit gemeinsam verbringen. Ich bekam an Rande mit, dass sie sogar schon Pläne schmiedeten, wie denn unsere Hochzeit vonstattengehen sollte. Ich würde Melissa ziemlich sicher dazu einladen müssen. Es hinderte also niemand Visaria daran mein Zimmer aufzusuchen, genauso wie umgekehrt. Und jetzt, nicht mehr auf einem engen Schiff eingeschränkt, wurde unsere Zeit zusammen deutlich rahjagefälliger. Es fiel mir zwar schwer ihr nicht die Kleider vom Leib zu reißen, aber ich beherrschte mich. Auch so… das Spiel ihrer Lippen auf den meinen, unsere liebkosenden Hände auf dem Körper des Anderen, schenkten uns einen Vorgeschmack auf das was uns bald erwarten würde. Es war, als stünde ich kurz vor dem Eingang in Rahjas Rosengarten selbst. In der zweiten Nacht, wir gingen erst sehr spät zu Bett, weil uns Melissa einen Rundgang durch die örtlichen Weinstuben hatte angedeihen lassen, schlich ich mich sogar in Visarias Zimmer und verbrachte dort die ganze restliche Nacht. Ich schaffte es nur knapp rechtzeitig am nächsten morgen zurück in mein Zimmer ohne gesehen zu werden bevor wir geweckt wurden, weil Mutter auf der von daheim gewohnten Routine und dem gemeinsamen Frühstück bestand.

Ulmjescha unterdessen schien von Tag zu Tag unglücklicher zu werden. Ihre Wangen wirkten eingefallen, aus ihr schien jegliche Lebensfreude gewichen. Ich war jedoch so auf Visaria fixiert, dass ich dies nur am Rande wahrnahm. Erst am letzten Tag zu unserer Abreise wurde mir dies richtig bewusst, als Nandurin nach dem Frühstück an meiner Robe zupfte, mich mit seinen großen Kulleraugen ansah und hochgenommen werden wollte. Er sah mich auf eine drollige, aber ernste Art an, die ich gar nicht von ihm kannte. „Dada böse. Dada Ulmi weh tut,“ war alles was er sagte. Das war fast schlimmer, als hätte er mir eine Ohrfeige gegeben. Ich musste heftig schlucken und hätte ihn um ein Haar fallen gelassen vor Überraschung. Und es erinnerte mich schmerzhaft deutlich an Lilianas Worte. „…ich gebe dir bis zur Abfahrt aus Chorhop Zeit das zu regeln und mit Ulmjescha zu sprechen. Wenn du es nicht machst, mach ich es…“ Das hatte ich über meine Stunden mit Visaria regelrecht vergessen. Und mir blieb auch keine Zeit mehr, mir passende Worte zurecht zu legen, denn wir würden schon mit der nächsten Ebbe auslaufen. Ich setzte Nandurin wieder auf den Boden und gab ihm einen Kuss auf die Backe. „Danke Nandurin…“ er sah mich verdutzt an und verstand nicht was ich meinte, als ich ihn stehen ließ und zu Ulmjescha hinüber ging. Sie saß auf einer unserer Reisekisten wie ein Häufchen personifiziertes Elend. Selbst ihr Haar wirkte stumpf und kraftlos. Als ich mich vor sie stellte blickte sie mit tränenschweren Augen von unten zu mir auf. Wie hatte ich das nur so übersehen und ignorieren können? War ich wirklich ein so herzloser Mensch? Der Anblick versetzte meinem Herz einen Stich, als hätte jemand einen Ogerfänger hineingetrieben und drehte ihn genussvoll darin um.

Ich nahm Ulmjescha an der Hand und führte sie wortlos in mein Zimmer. Sie trottete wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden hinter mir her. Ich hatte das Gefühl, das ich beobachtet wurde, konnte aber nicht sagen von wem oder woher. Als ich die Tür hinter uns geschlossen hatte hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging vor ihr auf die Knie damit unsere Gesichter auf einer Höhe waren. Ulmjescha sah mich elend und bleich an, ein Flehen in ihren Augen, als sie mit zittriger Stimme sagte „Wirst du mich jetzt wegschicken? Jetzt wo du nur noch für Visaria da bist? Du hast gesagt wir sind eine Familie…“ Und dann brachen sich die Tränen Bahn die sie bisher so tapfer zurückgehalten hatte und strömten wie Sturzbäche über ihre Wangen. Ihr kleiner zarter Körper wurde von bitteren Schluchzern geschüttelt. Es war mir egal was Mutter sagte. Das war es nicht Wert. Ich beugte mich vor und schloss sie in die Arme, drückte sie fest an mich und begann selbst zu weinen. Ein Schmerz tobte in meiner Brust, wie ich ihn noch nie gespürt hatte. Ihre Tränen tropften auf meine Robe als sie ihr Köpfchen verzweifelt gegen meine Schulter presste. Mit belegter Stimme flüsterte ich in ihr Ohr. „Es tut mir leid Ulmjescha. Das wollte ich nicht. Ich würde dich niemals gehen lassen…“ Dann versagte mir die Stimme. Sie zog ihren Kopf ein Stück zurück und sah mir mit tränenverschleiertem Blick in die Augen. „Aber wieso dann…?“ Es fiel mir schwer ihrem anklagenden Blick standzuhalten – schwerer als es mir gefallen war im Angesicht der Niederhöllen standhaft zu bleiben. „Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Du bist noch so klein…“ Ein Anflug von Trotz schlich sich in ihre verheulten Züge. „Ich bin nicht zu klein. Ich könnte, ich will alles für dich sein…“ „Aber ich kann nicht alles für dich sein Ulmjescha. Ich werde Visaria heiraten. Bald sogar.“ Ihr gequälter Schrei mit dem sie sich an mich klammerte als würde sie mich erdrücken wollen tat mir in den Ohren weh. „Aber ich liebe dich auch, Ulmjescha. Nur anders. Ich schwöre es bei den guten Göttern! Ich werde dich niemals gehen lassen. Das verspreche ich dir. Du wirst immer bei mir und Nandurin bleiben, wenn du das willst. Ich habe nicht gelogen als ich dir die Kette geschenkt habe. Du bist Teil unserer Familie. Ich werde einen weg finden…“ Und dann kam ich nicht dazu weiter zu reden, weil Ulmjescha ihre kleinen Lippen auf meinen Mund presste als würde sie mich verschlingen wollen. Kurz ließ ich sie gewähren, verwirrt und überrascht von diesem Überfall, bevor ich mich sanft von ihren fordernden Lippen löste. „Aber nicht so Ulmjescha.“ Der Schmerz der Zurückweisung in ihren Augen brachte mich fast um den Verstand. „Es geht so nicht. Wirklich. Aber ich werde einen anderen Weg finden, ich verspreche es Dir. Das musst du mir glauben. Bitte gib mir die Zeit, bis mir etwas eingefallen ist. Willst du das tun? Für mich?“ Langsam begannen ihre Tränen zu versiegen. Wieder sah sie mir direkt in die Augen als würde sie auf den Grund meiner Seele sehen wollen. „Ich habe niemand außer dich und Nandurin. Ich habe Angst! Und wenn mich deine Mutter oder Visaria fort schickt…?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht zulassen. Du gehörst zu mir. Wer dich fort schickt, schickt mich auch fort. Das verspreche ich dir. Ich werde einen Weg finden. Ich weiß noch nicht welchen, aber ich habe bisher immer einen Weg gefunden. Für alles. Das weißt du. Bin ich nicht ein Held dem alles gelingt?“ Ich sah sie hoffnungsvoll an. Ein kleines, kaum hörbares kichern lag endlich wieder in ihrer Stimme. „Ja, du bist ein Held. Mein Held. Aber lass dir nicht zu viel Zeit einen Weg zu finden. Bitte…“ Ich zog sie wieder eng in meine Arme und hielt sie einfach nur fest. Und als sie die Umarmung erwiderte fühlte es sich an, als würden wir zusammenwachsen. So hielten wir uns aneinander fest – ich weiß nicht wie lange, bis wir uns zögerlich voneinander lösten. „Ich glaube, die anderen warten schon wegen dem Schiff auf uns…“ gab ich wie eine lahme Ausrede von mir und Ulmjescha nickte. Langsam schien so etwas wie Leben in sie zurückzukehren. „Dann sollten wir uns vielleicht beeilen.“ Ich stand auf und streckte ihr meine Handfläche entgegen. Vertrauensvoll legte sie ihre kleine Hand in die meine und sah mich mit Augen an, die diesmal nicht von Tränen, sondern von Hoffnung schimmerten. Mit einem Tuch trocknete ich ihre Tränen vom Gesicht und wischte dann über mein eigenes. Meine Schulter war Nass von Ulmjeschas Tränen, so wie die meinen feuchte Flecken auf ihrem Kleid hinterlassen hatten. Wir mussten beide einen Elenden Anblick bieten. Aber es war, als würde eine zentnerschwere Last von meinem Herzen fallen, die mich bis gerade eben noch in die Tiefe gezogen hatte.

Als wir das Zimmer verließen um zu den anderen zurück zu kehren lehnte Liliana an der Wand gegenüber der Tür und sah mich mit einem vernichtenden Blick an der mir schlimmste Strafen verhieß. Erst als sie sah das Ulmjescha lächelte entspannte sich ihre Mine etwas. Trotzdem würde ich mich ihr wohl später auf dem Schiff erklären müssen. Vogtvikar Adnan Zeforika verabschiedete uns persönlich als wir seinen Palast verließen und lud uns ein, jederzeit gerne wieder seine Gäste zu sein, sollte unser Weg erneut in seine Stadt führen. Melissa begleitete uns jetzt und hatte zu dem ohnehin schon reichlichen Gepäck nun das ihre hinzugefügt, dass ebenfalls mehrere Träger umfänglich beschäftigte. Mit ihr als weiterem Passagier würden wir die Kajüten neu verteilen müssen. Oder wie es dann tatsächlich kam musste die erste Steuerfrau die ihren räumen um dem hohen Gast Platz zu machen. Die zusätzliche Kabine war kleiner als die der Passagiere. Ich überließ daher Melissa die Kajüte, die ich bisher mit den Kindern belegt hatte und wir drei zogen in den kleinen Verschlag hinten rechts im Heck um. Es störte mich nicht im mindesten. Nachdem wir die Kabinen bezogen hatten raunte ich Liliana bei der Ausfahrt aus dem Hafen ins Ohr ohne das es jemand anderes mitbekam. „Ich habe mit Ulmjescha gesprochen, so wie du es wolltest.“ Sie sah mich giftig an. „Das habe ich gehört. Der Schrei aus deinem Zimmer… hast du sie geschlagen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das würde ich nie tun. Eher würde ich mir die Hand abhacken. Sie weiß es jetzt – mit Visaria. Aber ich habe ihr versprochen einen Weg zu finden das sie bei mir bleiben kann. Ich weiß nur noch nicht wie.“ Liliana sah mich an als hätte ich eine Tarantel ausgespuckt. „Spinnst Du? Du kannst nicht einfach etwas versprechen, von dem du nicht weißt ob du es halten kannst. Wehe dir, wenn nicht…“ Ich zuckte schuldbewusst mit den Schultern. „Mir wird schon etwas einfallen. Mir fällt immer etwas ein, das weißt du…“ Jetzt lächelte Liliana mich wieder an. „Ja… das stimmt. Dir fällt immer etwas ein großer Bruder… deswegen hab ich dich ja auch so lieb…“. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Backe und lief zu Visaria und Melissa hinüber, die dem langsam kleiner werdenden Hafen hinterher blickten.

Als wir abends zu Bett gingen war es mir endgültig egal, was Mutter davon halten sollte. Ich spannte keine Hängematte in unserer neuen Kabine auf. Und egal wie unbequem es sein mochte. Diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen. Ich legte mich in die schmale Koje und Nandurin, der damit vollauf zufrieden schien, auf meine Schulter. Ulmjescha schien zunächst verunsichert. Aber als ich ihr mit einem Lächeln zu verstehen gab sie solle zu uns kommen, sonst hätte sie ja auch auf dem Boden schlafen müssen, hüpfte sie mit einem freudigen quietschen wie früher zu uns und umschlang mich wie in den Nächten bevor ich in die Hängematte ausgewandert war. Die beiden warmen Körper an mir zu spüren, ihren Atem an meinem Hals als sie einschliefen… wie hatte ich nur so dumm sein können das von mir zu weisen? Die Zeit würde früh genug kommen, dass ich mich davon würde trennen müssen! Ich sollte das genießen solange es ging. Aber just jetzt schien Dere wieder im Lot zu sein…

Dieser Eintrag wurde am 27.06.2025 (10:57) verfasst und 43 mal aufgerufen.
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